Jerusalem – Stadt der Gegensätze

Blick über die Altstadt von Jerusalem zum Ölberg
Blick über die Altstadt von Jerusalem zum Ölberg

Drei Monate in Jerusalem zu sein, zu leben, Menschen in ihrem Alltag zu begleiten, das muss doch ein Traum sein. Oder eher eine große Herausforderung? Jerusalem, Al-Quds, Yerushalayim – wohl kaum eine Stadt ist von solch einer Aura umgeben, aber auch so umstritten, ja umkämpft im wahrsten Sinne des Wortes.

Jerusalem – das Zentrum der Welt auf mittelalterlichen europäischen Landkarten – eine heilige Stadt, eine geteilte Stadt, eine Stadt, in der große Unterschiede zwischen West- und Ostjerusalem bestehen und deren östliche Bereiche zum Teil von einer bis zu 8 m hohen Mauer aus Betonteilen durchzogen werden.

Traum und schmerzliche Realität – das liegt hier in Jerusalem und Palästina / Israel ganz nahe zusammen. Das wurde mir schon kurze Zeit nach meiner Ankunft auf tragische Weise sehr deutlich. Zurück von meinem ersten freien Wochenende hatte ich noch etwas in der Altstadt besorgt, deren Atmosphäre, historische und religiöse Signifikanz mich immer wieder aufs Neue fasziniert, und befand mich auf dem Heimweg zu unserer Wohnung, etwas außerhalb der Altstadt. Eine Menschenansammlung bei den Taxistellplätzen zieht hier automatisch die Aufmerksamkeit auf sich, zumal wenn man mehr Polizei oder Soldaten in der Nähe des Tores wahrnimmt als üblich. Von einer kleinen Gruppe asiatischer Touristen bringe ich in Erfahrung, dass vor etwa einer Stunde eine junge Palästinenserin, die nach Polizeiangaben am Damaskustor eine Messerattacke ausführen wollte, von israelischen Sicherheitskräften mit mehreren Schüssen getötet wurde.

EAs beobachten Kontrollen der israelischen Polizei am Damaskustor
EAs beobachten Kontrollen der israelischen Polizei am Damaskustor

Verstört und geschockt verlasse ich den Ort, nicht zuletzt, weil weitere Zusammenstöße nicht auszuschließen sind. Nur wenige Tage später berichtet die israelische Menschenrechts-organisation B’Tselem, dass das 16 jährige Mädchen aus der Westbank keine Gefahr für die Polizisten dargestellt hatte und allem Anschein nach auch ohne die Anwendung von Gewalt hätte überwältigt werden können[1]. Ein einzelnes Schicksal, das doch symbolisch steht für  Verzweiflung, Angst, Hass und Hoffnungslosigkeit, die deutlich spürbar sind hier in Jerusalem.

Was heißt es in Jerusalem, genauer in Ost-Jerusalem für EAPPI (Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel – https://eappi.org/en) tätig zu sein? Wie ist überhaupt Ost-Jerusalem definiert, gibt es da eine Grenze, ist das nur die Altstadt bzw. welche Teile der modernen Stadt gehören dazu?

Im 1947 von der UN vorgelegten Teilungsplan für Palästina sollte Jerusalem mit Bethlehem ungeteilt unter internationaler Verwaltung stehen. Dieser Plan wurde jedoch nie umgesetzt, mehrere Kriege und 50 Jahre Besetzung schufen andere Tatsachen.

1967 wurde das damals unter jordanischer Verwaltung stehende Ost-Jerusalem von Israel besetzt. Im Juli 1980 wurde das sogenannte „Jerusalemgesetz“ im israelischen Parlament (Knesset) verabschiedet, das die Stadt zur „ungeteilten Hauptstadt Israels“ erklärte und damit die Annexion Ost-Jerusalems besiegelte. Von den Vereinten Nationen wurde dieser Schritt mit Resolution 478 des Sicherheitsrats umgehend als nicht rechtens zurückgewiesen, daher befinden sich bis heute die internationalen Botschaften in Tel Aviv.

Aus israelischer Sicht existiert also nur ein Jerusalem, in Wirklichkeit ist die Stadt jedoch zweigeteilt: West-Jerusalem, eine in weiten Teilen aufgeräumte, moderne, eher westliche Großstadt mit einem orientalisch wirkenden, jüdisch-orthodoxen Viertel, und Ost-Jerusalem, das für die meisten Touristen identisch ist mit der berühmten “Old City“, umgeben von einer Jahrhunderte alten Mauer mit mittelalterlichen Toren, die immer noch geschlossen werden können. Allerdings passiert dies nun durch israelische Sicherheitskräfte und moderne Metall-Barrieren.

Zugangsbeschränkungen für Christ*innen in der Altstadt von Jerusalem
Zugangsbeschränkungen für Christ*innen in der Altstadt von Jerusalem

Dies beobachteten wir am Karsamstag, als Tausende Pilger am Jaffa-Tor stundenlang warten mussten, bevor sie in die Altstadt und (für viele zu spät) zum Heiligen Feuer in die Grabeskirche gelangen konnten. Aber Ost-Jerusalem erstreckt sich weit über die Altstadt hinaus, es umfasst außer der “Neustadt“ eine Reihe von Stadtvierteln, die durch die unilaterale Erweiterung der Stadtgrenzen in Folge der Besetzung 1967 nach Jerusalem integriert wurden. Die Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem haben nach der Annexion keine israelische Staatsbürgerschaft, sondern lediglich eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Dies heißt unter anderem, dass sie nicht berechtigt sind, an den Wahlen zum israelischen Parlament teilzunehmen, in dessen Entscheidungsbereich sie jedoch leben. Seit 1967 wurde über 14.000 Palästinenser*innen aus Ost-Jerusalem die Aufenthaltsgenehmigung entzogen.

Die palästinensischen Stadtteile in Ost-Jerusalem sind zahlreichen Problemen ausgesetzt, wie z.B. Kontrollen der Schulkinder durch israelische Soldaten. Hier gehören Besuche von Nachbarschaftszentren und die Begleitung von Schülern bzw. das Beaufsichtigung des Schulwegs zu den Aufgaben von Ökumenischen Begleiter*innen.

Die Beduinengemeinde Abu Nuwar, im Hintergrund Ma’ale Adumim, mit knapp 40.000 Einwohner*innen eine der größten illegalen israelischen Siedlungen in der Westbank
Die Beduinengemeinde Abu Nuwar, im Hintergrund Ma’ale Adumim, mit knapp 40.000 Einwohner*innen eine der größten illegalen israelischen Siedlungen in der Westbank

Das EAPPI Jerusalem Team besucht aber z.B. auch einige der außerhalb der Stadtgrenzen liegenden Beduinengemeinden, die 1948 aus ihren ehemaligen Siedlungsgebieten aus dem Negev vertrieben wurden und hier nun oft durch moderne Straßen abgeschnitten von ihrem Weideland, ohne eine reguläre Strom-Wasser-Versorgung und andere Basis-Infrastruktur unter extrem primitiven Bedingungen leben. Während die modernen israelischen Siedlungen gleich nebenan jede mögliche Unterstützung finanziell wie durch die Bereitstellung der benötigten Infrastruktur (Straßen, öffentlicher Transport, Strom, Wasser, Schulen, etc.) erhalten. Während die Bevölkerung dieser (nach internationalem Recht) illegal errichteten Siedlungen stetig zunimmt (derzeit etwa 600.000 in Ost-Jerusalem und Westbank), sind die primitiven Behausungen der Beduinen von Abriss bedroht. Diese Hauszerstörungen gehören zu den wirklich schwer zu ertragenden Dingen in diesem an Ungerechtigkeiten reichen Land. Weil viele dieser Behausungen – von Häusern kann man oft nicht sprechen – ohne Genehmigung errichtet wurden, werden sog. “demolition orders“ ausgestellt, die den Bewohnern ankündigen, dass ihr Heim in wenigen Tagen zerstört werden wird. Manche machen von der „Option“ Gebrauch, das eigene Haus selbst zu zerstören, damit zumindest die nicht unerhebliche Rechnung für den Abriss erspart bleibt, die sie sonst auch noch begleichen müssen. Warum – mag man sich fragen – wird überhaupt ohne Genehmigung  gebaut? Die Antwort ist einfach: weil in den von Israel vollständig kontrollierten C-Gebieten der Westbank und in Ost-Jerusalem trotz wachsender Bevölkerung so gut wie keine Baugenehmigungen an Palästinenser vergeben werden; in den C-Gebieten werden nach Angaben der UN ca. 97% aller Anträge abgelehnt. Dies gilt nicht nur für die Beduinen, sondern ganz allgemein für die dort ansässigen Palästinenser.

Jeden Morgen stehen palästinensische Arbeiter am Checkpoint Qalandia teilweise stundenlang an, um zu ihren Arbeitsplätzen in Jerusalem und Israel zu kommen
Jeden Morgen stehen palästinensische Arbeiter am Checkpoint Qalandia teilweise stundenlang an, um zu ihren Arbeitsplätzen in Jerusalem und Israel zu kommen

Eine andere wichtige Aufgabe ist die Beobachtung von sogenannten Checkpoints, z.B. in Qalandia, an der Verbindungsstraße von Jerusalem nach Ramallah, dem Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde. Regelmäßig wird auch der Checkpoint  zum Flüchtlingslager in Shufat besucht, morgens und mittags, wenn die Kinder und Jugendlichen zur Schule gehen, bzw. wieder nach Hause kommen.

Schließlich werden Kontakte zu den verschiedenen israelischen NGOs hergestellt bzw. ausgebaut, zum einen, um die oft sehr komplexen Probleme besser zu verstehen, zum anderen, um Ansprechpartner zu haben, wenn Betroffene praktische Hilfe benötigen, die wir selbst nicht leisten können.

Der erste Monat als EA in Jerusalem ist geprägt von einer Vielzahl von Informationen und Eindrücken, die z.T. nur schwer zu ertragen sind, da man in den meisten Fällen konkret zunächst nicht helfen kann. Oft versteht man das Handeln der Beteiligten nicht, insbesondere, warum die Palästinenser wie Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt werden, zumal sie oft seit Generationen im Lande gelebt haben, während viele Israelis in den letzten Jahrzehnten eingewandert sind. So zahlen die Palästinenser in Ost-Jerusalem zwar die gleichen Steuern, aber damit ist die Gleichheit auch schon zu Ende. Laut Angaben von internationalen Organisationen kommt von den Steuern weniger als 25% in den palästinensisch bewohnten Gebieten Jerusalems an, was man allerorten sehen kann, angefangen beim nicht entsorgten Müll bis hin zu den kaputten Straßen. Die etwa 200.000 Bewohner der israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem genießen hingegen die gleichen Serviceleistungen wie die Einwohner West-Jerusalems.

Einlass zum Gottesdienst der Syrisch-Orthodoxen Kirche
Einlass zum Gottesdienst der Syrisch-Orthodoxen Kirche

Für mich als Außenstehenden, der nicht täglich um seine Rechte kämpfen muss, bietet die Stadt aber auch so viel Schönes, Spannendes, ja Einzigartiges, was nur in Jerusalem zu erleben ist. Unvergessen ist mir z.B. die fast dreistündige Sonntagsliturgie der Syrisch-Orthodoxen Kirche, die ich kürzlich mitfeiern durfte. Eine kleine unscheinbare Grotte in der verzweigten Grabeskirche war wunderbar mit farbigen Wandbehängen in eine Kapelle verwandelt worden, in der ein Dutzend Priester zusammen mit dem Bischof den Gottesdienst auf Aramäisch und Arabisch feierten. Im Anschluss an den Gottesdienst zieht die Gemeinde gemeinsam mit den Priestern dem goldenen Bischofsstab folgend durch den Souk zum Kloster St. Mark. Dort gibt es Tee und Kaffee, und die Gemeindeglieder und Gäste – an diesem Tag sind einige Syrische Christen aus Holland und Deutschland zu Gast – unterhalten sich und stärken so den Zusammenhalt der kleinen Schar von verbliebenen Gläubigen.

Joachim, im Mai 2017

[1] http://www.btselem.org/firearms/20170510_killing_of_fatimah_hjeiji

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