Das erste Mal treffe ich Abu Ashraf vor dem Büro des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (ICRC) in Tulkarem. Jeden Dienstag findet dort eine kleine Mahnwache statt. Angehörige von palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen zeigen dabei ihren Unmut über die Bedingungen in den Haftanstalten und die zahlreichen Restriktionen im Hinblick auf Besuche von Angehörigen in Gefängnissen.
Laut Artikel 76 der IV. Genfer Konvention ist es einer Besatzungsmacht nicht gestattet, Gefangene aus den besetzten Gebieten auf eigenem Staatsgebiet zu inhaftieren. Dennoch befinden sich, mit einer Ausnahme, alle Gefängnisse für palästinensische Gefangene in Israel. Die wöchentlichen Mahnwachen, so Abu Ashraf, richteten sich daher auch an die internationale Gemeinschaft, die derartige Rechtsverstöße weiterhin zuließe. Das ICRC ist als einzige internationale Organisation in Tulkarem präsent und organisiert die sporadisch möglichen Haftbesuche der Angehörigen, die dafür spezielle Genehmigungen benötigen.
Abu Ashraf war an diesem Tag sehr aufgebracht. Wütend sprach er mit erhobener Stimme in das Mikrofon einer palästinensischen Fernsehagentur. Wir fragen Abed, einen unserer Kontakte für Tulkarem, weshalb der ältere Herr mit Gehstock so verärgert sei. Abed erklärt uns, dass in der Woche zuvor israelische Sicherheitskräfte mitten in der Nacht in Abu Ashrafs Wohnung eingedrungen seien, seinen Sohn vor den Augen dessen kleiner Kinder verhaftet und ihn selbst zu Boden gestoßen hätten. Er trägt eine Bandage um den Kopf.
Abed stellt uns Abu Ashraf vor. Dieser erzählt uns von der Nacht, in der seine Familie unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Als über 20 schwer bewaffnete Soldaten in sein Haus eingedrungen seien. Besonders für die Kinder und Frauen sei dies ein traumatisches Erlebnis gewesen. Er erzählt, dass er immer noch nicht weiß, wohin sie seinen Sohn gebracht haben. Was sie ihm vorwerfen. Dieser, so Abu Ashraf, habe schon einmal mehrere Jahre in israelischer Haft verbracht. Nun, da der Sohn seit mehreren Jahren selbst Familienvater sei, würde er sich aber doch aus politischen Aktivitäten heraushalten, so Abu Ashraf.
Die Familie von Abu Ashraf lebt im Nur Shams Camp, eines von zwei Flüchtlingslagern in Tulkarem. Ungefähr 8.000 Menschen leben in diesem Camp. Es sieht aus wie in jedem anderen Flüchtlingscamp in den palästinensischen Gebieten auch. Schmale Straßen, enge Gassen. Kaum Platz, um sich frei zu bewegen. Unser lokaler Kontakt Abed erzählt uns, dass die Armee mehrmals pro Woche in das Flüchtlingscamp kommt, immer in der Nacht. Wohnungen würden unsanft durchsucht, Menschen aus dem Schlafzimmer heraus verhaftet. Meistens, so sagt er, mit gefesselten Händen und einem Tuch über dem Kopf.
Die meisten Menschen im Camp sind Flüchtlinge bzw. deren Nachkommen aus Haifa, Jaffa und Acre, dem heutigen Akko. Das erzählt uns Abu Ashraf, als wir ihn einige Wochen nach unserem ersten Treffen in Nur Shams besuchen. Sein 21-jähriger Sohn Mohammad, der einige Tage zuvor ebenfalls verhaftet worden war, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.
Wir lernen Mohammad kennen und fragen ihn, weshalb er verhaftet wurde. Er erzählt uns, dass die Soldaten von ihm belastende Informationen über seinen älteren, zuvor verhafteten Bruder haben wollten. Ihm selbst hätten sie nichts vorgeworfen. Deshalb wurde er verhaftet, fragen wir nach? Ja, antwortet Mohammad. Mitten in der Nacht. Schwer bewaffnete Soldaten haben die Tür aufgebrochen. Es war das erste Mal für Mohammad im Gefängnis. Er möchte nicht über das reden, was dort passiert ist. Er sagt nur, dass es schlimm war. Dass er Angst hatte.
Seine Söhne waren jeweils volljährig, als sie verhaftet wurden, sagt Abu Ashraf. Aber er kenne einen Jungen aus der Nachbarschaft, der vor ein paar Tagen entlassen wurde. Mit 16 Jahren wurde er verhaftet und ist jetzt, zwei Jahre später, wieder freigekommen.
Wir besuchen den jungen Mann, der ebenfalls Mohammad heißt, und sprechen mit ihm und seinen Eltern über seine Verhaftung. Er erzählt uns, dass zuerst ein Bruder verhaftet wurde. Die Soldaten kamen in der Nacht, sie fragten auch nach ihm. Er habe aber bei einem Freund geschlafen. Die Soldaten beauftragten die Eltern, ihren Sohn am nächsten Tag zum lokalen Standort der Armee am Stadtrand von Tulkarem zu schicken. Er solle sich melden. Als Mohammad das am darauffolgenden Tag tat, wurde er direkt verhaftet. Der Vorwurf lautete Steinewerfen. Mohammad musste mehrere Monate auf sein Gerichtsverfahren warten.
Wir haben schon häufiger gehört, dass Verhaftete in dieser Situation ein Geständnis unterschreiben, unabhängig davon, ob sie schuldig sind oder nicht. Als ich einige Tage später an einer Tour der NGO Military Court Watch (MCW)[1] teilnehme, wird mir bewusst, warum einige diese Entscheidung treffen. Unsere Gruppenleiterin erzählt uns, dass palästinensische Angeklagte – auch Kinder – im Unterschied zu israelischen Angeklagten, die nach Zivilrecht verurteilt werden, so gut wie nie auf Kaution freigelassen werden. Bis zum Gerichtsverfahren müssten die betroffenen Angeklagten demnach im Militärgefängnis sitzen. Diese Praxis steht laut einem UNICEF-Bericht aus dem Jahr 2013 im Widerspruch zu Artikel 37(b) der Internationalen Konvention zum Schutz des Kindes, wonach Inhaftierungen nur als allerletztes Mittel angewandt werden sollen.[2] Israel hat die Konvention sowohl unterzeichnet als auch ratifiziert.
Die Vertreterin von MCW erzählt uns, dass es länger als 6 Monate dauern kann, bis so ein Militärgerichtsverfahren startet. Bekenne man sich aber schuldig und handele einen Vergleich aus, dann verbringe man meist weniger Zeit im Gefängnis als die mögliche Wartezeit bis zum Beginn des Verfahrens. Zu diesem Schluss kommt auch besagter UNICEF-Bericht, in dem es heißt, ein Schuldeingeständnis sei der schnellste Weg, das Gefängnis zu verlassen.[3] Die Verurteilungsrate der israelischen Militärgerichte liegt insgesamt bei über 99 Prozent.[4]
Als wir Mohammad zum Schluss noch fragen, was er denn jetzt vorhabe, ob er die Schulzeit nachholen möchte, die er verpasst hat, lacht er und sagt nein. Er möchte jetzt Arbeit finden und eine Frau, er möchte eine Familie gründen. Das sei ein bekanntes Muster erzählte uns Hassan, unser Kontakt in Azzun, der sich mit gefangenen Minderjährigen auskennt. Viele Jugendliche möchten nach einem Gefängnisaufenthalt nicht mehr zurück in die Schule kommen. Vor allem die Jungen schämen sich ihm zufolge, wenn sie nach längerer Abwesenheit wieder in die Schule einsteigen sollen, und all ihre Klassenkameraden nun viel jünger sind. Zudem, ergänzte Hassan, haben die Jugendlichen Angst, ausgestoßen zu werden. Denn nach einer Freilassung stehe häufig die Frage im Raum, ob der Betroffene in den zahlreichen Verhören Freunde verraten oder zu Unrecht beschuldigt haben könnte.
Wir bedanken uns bei der Familie von Mohammad und machen uns auf den Weg nach Hause. Wir laufen durch die engen Gassen des Nur Shams Refugee Camps, vorbei an all den Plakaten von verhafteten oder getöteten Menschen – viele noch minderjährig, die aus dem Camp stammen. Abu Ashraf lädt uns noch zu einem Fest ein, das später am Abend stattfinden soll. Es ist für die Kinder und Jugendlichen, die ihre Schulklasse bestanden haben, erklärt er uns. Ihm ist es wichtig, dass wir auch die schönen Sachen sehen im Camp, sagt er immer wieder. „Wir haben hier auch Freude, wir feiern, wir tanzen. Wir lieben unsere Kinder.“
Wir verabschieden uns von Abu Ashraf und seinem Sohn. Unser Kontakt Abed erklärt uns noch kurz, dass Nur Shams übersetzt „Sonnenlicht“ bedeute. „Wir können nur hoffen“, fügt er noch hinzu, „dass für die Menschen hier im Camp die Sonne bald zu scheinen beginnt.“
Ehemalige EA Nicola, im Oktober 2018
Ich habe für die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die der EMS oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] http://militarycourtwatch.org/
[2] https://www.unicef.org/oPt/UNICEF_oPt_Children_in_Israeli_Military_Detention_Observations_and_Recommendations_-_6_March_2013.pdf
[3] Ebd. Seite 13
[4] https://www.haaretz.com/1.5214377