Jeden Morgen, wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich sie: eine Mauer, die mich an Berlin erinnern lässt, nur dass diese hier in Bethlehem ca. 4 Meter höher ist als die Berliner Mauer. Die nach ihrer Fertigstellung anvisiert über 700 Kilometer lange Trennbarriere[1], in städtischen Räumen eine Mauer, in ländlichen Gebieten eine Sperranlage aus Zäunen, Gräben und Militärstraßen, verläuft zu 85% nicht auf der Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen Israel und Westjordanland, sondern zum Teil kilometerweit innerhalb des palästinensischen Gebiets – so auch im Bezirk Bethlehem. Obwohl der Internationale Gerichtshof bereits 2004 die Anlage aufgrund dieses Verlaufs und der damit verbundenen de-facto Annexion von geplant etwa 9% des Westjordanlands für völkerrechtswidrig erklärte, wurde der 2002 begonnene Bau weiter fortgesetzt und ist heute zu etwa 65% fertiggestellt.

Die Fenster am Wachturm des Checkpoint 300 sind nicht einsehbar; aber es lässt sich vermuten, dass von dort kontrolliert und überwacht wird. Unsere Vermieterin berichtet, dass ihr Mann eines Tages auf dem Balkon einen Leuchtpunkt eines Zielgeräts auf der Stirn hatte. Wenn es nicht die Menschen sind, die aus dem Wachturm beobachten, ist es eine Drohne hoch über unseren Köpfen. Das erzeugt ein mulmiges Gefühl.
Anfang 2023 wurden vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) insgesamt 565 unterschiedliche Absperrvorrichtungen im Westjordanland – einschließlich Ost-Jerusalem – dokumentiert[2]. Im Februar 2025 waren es bereits annähernd 850 Hindernisse[3], die die Bewegungsfreiheit der insgesamt 3,2 Millionen im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser:innen weiter systematisch einschränken. Dabei handelt es sich sowohl um permanente Anlagen wie Checkpoints und Straßenschranken/Road Gates, die vom israelischen Militär und der Grenzpolizei dauerhaft oder gelegentlich besetzt sind, als auch um mobile Blockaden wie Flying Checkpoints (kurzfristig für die Kontrolle des Verkehrs auf einer Straße platziertes Militärfahrzeug), Erdwälle und Gräben. Letztere schießen wie Pilze aus dem Boden, werden beliebig geöffnet oder geschlossen, und schränken das Leben der palästinensischen Bevölkerung erheblich ein. Sie teilen Dorfgemeinschaften und verwehren Landwirten den Zugang zu ihren Feldern; Kinder können nicht mehr ungehindert in die Schule gehen und Familien nicht mehr ihre Verwandten besuchen.

Damit wird den Menschen der Zugang zu ihrer Lebensgrundlage, zu Gesundheitsversorgung, Bildung und anderen grundlegenden Dienstleistungen erschwert oder gar verwehrt, was nach Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen eine gravierende Rechtsverletzung darstellt. Wer sich einen visuellen Eindruck dieser Situation verschaffen möchte, dem sei diese Videorecherche der New York Times empfohlen.
Die Situation in Bethlehem
In Bethlehem existierten laut UNOCHA im Februar 2025 insgesamt 76 Sperren[4], darunter allein 37 Straßentore/Road Gates. Die Zahl muss jedoch mittlerweile mit Sicherheit nach oben korrigiert werden, da wir erleben und bei unseren Besuchen in den verschiedenen Gemeinden regelmäßig hören, dass immer wieder neue Sperren errichtet werden. Die Situation hat sich vor allem seit dem 7. Oktober 2023 dramatisch verschlechtert. Neue Hindernisse wurden errichtet, existierende Straßentore, die früher nur sporadisch vom israelischen Militär geschlossen wurden, bleiben nun für lange Zeiträume oder dauerhaft geschlossen. So bleiben viele Hauptstraßen, die durch das Westjordanland führen, für palästinensische Privatfahrzeuge mit ihren weiß-grünen Nummernschildern gesperrt. Nur Palästinenser:innen mit speziellen Passierscheinen, etwa für den Transport von Personen oder Waren, dürfen diese Straßen nutzen, oder jene, die in Ost-Jerusalem oder in Israel wohnen und daher ein israelisches Kennzeichen haben. Für die Siedler:innen hingegen ist der Weg auf diesen Hauptstraßen frei. Das israelische Menschenrechtszentrum B’Tselem bezeichnet dieses System der Straßen, die Palästinenser:innen nur eingeschränkt oder gar nicht nutzen dürfen, als `Regime der verbotenen Straßen‘[5]. Dieses Regime basiere, so B’Tselem, auf der Annahme, dass alle Palästinenser:innen ein Sicherheitsrisiko darstellen und deshalb ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden müsse. Gleichzeitig werden Straßen durch palästinensische Gebiete als hoch gefährlich für die Israelis deklariert.

Wenn der Checkpoint 300 – ein großer Übergang von Bethlehem nach Jerusalem – geschlossen ist, bedeutet das für viele Menschen beschwerliche, lange und teilweise sehr kostspielige Umwege. An manchen Tagen bleiben die Checkpoints nach Jerusalem auch komplett geschlossen und es ist kein Durchkommen möglich. Für die Bevölkerung in Bethlehem ist es vor allem die Willkür, mit denen Straßenblockaden erreichtet und Wege über Stunden und manchmal Tage gesperrt werden. Das erzeugt Unsicherheit und Angst, aber auch Ärger und Wut.
Auswirkungen auf Bildung
Während einige Lehrkräfte es im Falle geschlossener Sperren schaffen, ihre Schulen über Alternativrouten zu erreichen, können sich andere die Zeit und die Kosten oder die Unvorhersehbarkeit der Anfahrt nicht leisten. Das hat gravierende Folgen auf den Unterricht für Schüler:innen. Ähnlich ergeht es den Studierenden, die zum Teil einen langen Anfahrtsweg zur Universität haben. Um rechtzeitig zur Vorlesung zu kommen, nehmen sie viele zusätzliche Stunden für Wartezeiten an Checkpoints und unliebsame Befragungen auf sich. Im Gespräch mit Studierenden hören wir von Fällen gewalttätiger und sexueller Übergriffe durch israelische Grenzpolizist:innen. Diese Situation kann dazu führen, dass insbesondere junge Studierende ihre Studienlaufbahn frühzeitig abbrechen. So berichtete uns die 18-jährigen Fatima*, dass sie auf dem Weg von Bethlehem zur Universität in Ramallah den gefürchteten Container Checkpoint, der den nördlichen und südlichen Teil des Westjordanlandes voneinander trennt, passieren musste. Eines Tages wurde sie ohne Grund aus dem Bus gezogen, in einem separaten dunklen Raum verhört und von einer israelischen Soldatin mit einem Maschinengewehr zusammengeschlagen. Aus Angst vor weiteren Angriffen und Demütigungen beendet sie ihre Studienlaufbahn noch im ersten Studienjahr. Sie hofft auf ein Stipendium an der Universität in Bethlehem, die für sie ohne Checkpoints erreichbar ist.
Auswirkungen auf die medizinische Versorgung
Auch der Krankentransport aus den Dörfern ins Krankenhaus nach Bethlehem hat sich erheblich verschlechtert. Rettungssanitäter berichten[6], dass sie regelmäßig an festen oder mobilen Kontrollpunkten durchsucht werden und während des Patiententransports vermehrt Schikanen, Einschüchterungen und körperlichen Übergriffen durch israelische Streitkräfte ausgesetzt sind.
Eine Frau im Bus erzählt mir unter Tränen, dass sie ihren an Krebs erkrankten Vater seit dem 7.Oktober 2023 nicht mehr ins Auguste-Victoria-Krankenhaus auf dem Ölberg in Jerusalem zur Behandlung bringen kann, da die israelischen Behörden aktuell für ihn den Passierschein für eine Überfahrt nach Jerusalem ausgesetzt haben. Laut WHO wurden zwischen Oktober 2023 und Mai 2025 39% aller Anträge für medizinische Passierscheine von den israelischen Behörden abgelehnt[7]. Ihr Vater hat seitdem keine Bestrahlung mehr erhalten und auch keinen Zugang zu den lebenswichtigen Alternativmedikamenten, die die Krankheit verlangsamen oder zumindest die Schmerzen lindern könnten. Es geht im täglich schlechter – auf dem Foto, das sie mir zeigt, ist ein ausgemergelter, von der Krankheit gezeichneter Mann zu erkennen.
Das Beispiel Al-Asakrah – eine Erfolgsgeschichte?
5km südlich von Bethlehem liegt das Dort Jannatah mit einer Bevölkerung von annähernd 9000. Al Asakrah ist einer von 5 Dorfteilen mit ca. 3000 Einwohner:innen. Der Dorfkern liegt im Gebiet B, die umliegenden Ländereien gehören dem Bereich C an. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat die administrative Kontrolle über den Bereich B – das umfasst den Bildungs-, Wirtschafts- und Gesundheitssektor – während sie sich die Sicherheitskontrolle mit den israelischen Behörden teilt.
Am frühen Morgen des 25. September informiert uns ein Dorfbewohner über mehrere israelische Armeejeeps in Al Asakrah, die einen Bagger eskortierten. Später sehen wir Aufnahmen vom Geschehen. Drohnen schwirren über den Köpfen der Bewohner. Kurz darauf fängt das Baufahrzeug an, Erdwälle an 5 Ausfallstraßen in Al Asakrah zu errichten. Gleichzeitig dringen Soldat:innen in einzelne Häuser ein, zerstören Inventar, bedrohen die Menschen, machen den Kindern Angst. Ein älterer Mann ist nach einem heftigen Stoß die Treppe heruntergefallen und hat sich am Kopf verletzt, so berichtet er uns später persönlich.

Die Armee habe zudem deutlich gemacht: wer versucht, die Erdwälle zu entfernen, wird umgehend verhaftet. Vor allem der ortsansässige Baggerfahrer wird instruiert, sein Fahrzeug nicht zu bewegen; ansonsten drohe ihm Gefängnis. Die Menschen sind verängstigt bis wütend. Die ersten jungen Männer machen Pläne, die Erdwälle mit den bloßen Händen zu entfernen. Andere, mit höhergelegten Fahrzeugen, versuchen die Hindernisse zu umfahren. Der Tag beginnt damit, dass der gesamte Dorfteil stillgelegt ist; keiner kann zur Arbeit fahren, die Kinder können nicht in die Schule, dringende Arzttermine können nicht wahrgenommen werden.
Ein Beamter des palästinensische DCO (District Coordination Office) mit Sitz in Bethlehem ist über den Vorfall bereits informiert. Die palästinensischen DCOs sind das Gegenstück zu den israelischen DCOs, die wiederum der Teil der sogenannten „Zivilverwaltung“ der israelischen Armee sind, welche für die Verwaltung ziviler Angelegenheiten im Westjordanland zuständig ist. Die Behörde kam in den letzten Jahren in die Schlagzeilen, nachdem die Verantwortlichkeiten – entgegen der Vorgaben internationalen Rechts in Bezug auf Besatzungssituationen – auf Minister Smotrich übergingen, der dafür ein eigenes ziviles Ministerium innerhalb des Verteidigungsministeriums erhielt.[8]
Die DCOs sind für den Austausch zwischen palästinensischen und israelischen Behörden zu Dingen wie etwa den Passierscheinen zuständig. An diesem Morgen hat der palästinensische Beamte der DCO seinen Kollegen auf israelischer Seite direkt zu den Vorgängen in Al Asakrah benachrichtigt. Es liegt wohl keine konkrete Straftat vor, doch allein der Vorwurf, dass jemand Steine geworfen haben soll, reicht, um die Straßenblockaden zu rechtfertigen und sie zu errichten.
Es wird rege verhandelt. Der Austausch zwischen palästinensischer und israelischer DCO scheint in diesem Fall Früchte zu tragen, das ist nicht selbstverständlich. Noch am selben Tag werden der zuständige Bürgermeister aus Jannatah sowie der Dorfrat aus Al Asakrah einberufen, Videos werden gesichtet.
Schließlich erscheint am darauffolgenden Tag der Beamte der palästinensische DCO persönlich im Dorf und weist den lokalen Baggerfahrer an, alle 5 Erdwälle zu entfernen.

Diesmal ist es eine Erfolgsgeschichte, aber sehr selten geht es so positiv aus. Für die Menschen bleibt es ein permanenter Balanceakt zwischen Unwägbarkeiten und Unplanbarkeit.
*Name geändert
Beate, im Oktober 2025
Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1]https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-impact-20-years-barrier-december-2022
[2]https://www.ochaopt.org/2023-movement
[3]https://www.ochaopt.org/content/movement-and-access-update-west-bank-may-2025
[4] ebenda
[5]https://www.btselem.org/publications/summaries/200408_forbidden_roads
[6]https://www.msf.org/%E2%80%9Cinflicting-harm-and-denying-care%E2%80%9D-west-bank-msf-report-escalation-attacks-and-obstructions
[7]https://apps.who.int/gb/scheppr/pdf_files/SCHEPPR7/EB_SCHEPPR7_5-en.pdf Seite 2
[8]https://www.yesh-din.org/en/the-quiet-overhaul-changing-the-nature-of-israeli-control-in-the-west-bank-analysis-of-israels-37th-governments-annexation-policy-and-its-ramifications/