Wenn wir über die israelische Besatzung in Palästina sprechen, stehen meist Gewalt, illegale Siedlungen und systematische Menschenrechtsverletzungen im Fokus. Eine Perspektive ist dabei oft weniger sichtbar: die von Frauen und Mädchen. Ihre Stimmen finden seltener Gehör, weil sie im politischen Diskurs und bei der Vergabe einflussreicher Positionen oft nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Deswegen ist es mir ein besonderes Anliegen, die Stimmen von Frauen und Mädchen zu verstärken. In Masafer Yatta habe ich mit Amal*, Ola* und Dalia* gesprochen. Sie erzählen von ihrem Alltag unter der völkerrechtswidrigen Besatzung – von Angst, Standhaftigkeit und Hoffnung.
Amal, 65 Jahre alt, lebt mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn in Amnir[1], einem kleinen Dorf im Süden des Westjordanlands – in dem Gebiet, das mit dem Oslo-Abkommen von 1995 als Zone C deklariert wurde. Zone C steht unter vollständiger israelischer Kontrolle. Das bedeutet: Kein regulärer Zugang zu Wasser- und Stromversorgung, keine Baugenehmigungen, keine Sicherheit. In 61% des Westjordanlands sind damit palästinensisches Leben und palästinensische Entwicklung massiven Einschränkungen unterworfen, während in der direkten Nachbarschaft palästinensischer Gemeinden die völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen ausgebaut werden.[2] Alleine Ende Mai genehmigte die israelische Regierung 22 weitere Siedlungen.[3]

Amnir ist umgeben von sogenannten „Außenposten“ – nach internationalem UND israelischem Recht illegal errichteten Siedlungen, die immer weiter wachsen. Für Amal bedeutet das: ständige Bedrohung. „Ich kann nachts nicht schlafen. Ich wache ständige auf – mein Mann ist immer wach.“[4] Die Familie lebt in ständiger Alarmbereitschaft. Bei einem unserer Besuche erlebten wir diese Situation hautnah: 30 – 40 Siedlerjugendliche griffen nachts die etwas entfernt stehenden Nachbarhäuser an. Steine flogen. Armee und Polizei kamen zwar, unternahmen jedoch nichts zum Schutz der Dorfbewohner:innen, sondern stellten sich auf die Seite der Siedler. Tränengas wurde eingesetzt, das bis zu uns hinüberzog und in den Augen brannte.
Amals Ehemann verbrachte anschließend die Nacht draußen mit einer Taschenlampe – mehr als eine Stunde Schlaf hatte er auch in dieser Nacht nicht. Amal erzählt mir, dass die Siedler zum Teil mehrmals nachts kommen und gehen und vor allem die Bewohner:innen der Nachbarhäuser belästigen.
Amal heiratete mit 15 Jahren. Ihre Eltern nahmen sie mit 14 aus der Schule, weil sie zu Hause gebraucht wurde. Heute hat sie vier Söhne und zwei Töchter – alle inzwischen verheiratet. Mitten in unserem Interview mussten wir unterbrechen: Raketen aus dem Jemen flogen über unsere Köpfe. Der Himmel leuchtet, als wären es Feuerwerke. Die Detonationen vom Abwehrsystem waren deutlich zu spüren. Nach einiger Zeit kehrte Ruhe ein. Wir machten mit unserem Interview weiter, als ob nichts passiert wäre. Die Welt dreht sich weiter.
Ola, 40 Jahre alt, ist Mutter von vier Töchtern und zwei Söhnen. Sie lebt mit ihren Kindern in Susiya, einem kleinen Dorf, das mehr an ein Provisorium erinnert. Zelte, einfache Hütten, kaum Infrastruktur. Das ursprüngliche Dorf wurde 1986 von den israelischen Behörden geräumt – offiziell wegen archäologischer Ausgrabungen. Doch seit über 20 Jahren steht auf genau diesem Gelände ein israelischer Außenposten – illegal, aber geduldet. Die Dorfbewohner:innen haben osmanische Besitzurkunden für ihr Land. Nach der Räumung ließen sie sich auf ihrem Farmland nieder, wie überall in den C-Gebieten erhielten sie aber keine Baugenehmigungen der israelischen Behörden. Immer wieder war Susiya seither von Hauszerstörungen betroffen. 2012 reichte die benachbarte, völkerrechtswidrige israelische Siedlung Suseya gemeinsam mit der pro-Siedler-Organisation Regavim Klage gegen das palästinensische Dorf ein und forderte den kompletten Abriss.[5] Die israelische NGO Rabbis for Human Rights (Rabbiner:innen für Menschenrechte) vertrat damals das Dorf. Es gab keinen Erfolg vor Gericht, auch nicht 2015, als sich das Dorf erneut mit juristischen Mitteln zu wehren versuchte.[6] Bis heute werden regelmäßig Wohn- und Nutzgebäude im Dorf abgerissen und dann von den Bewohner:innen wieder aufgebaut.

Ola heiratete mit 16. Mit 17 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Sie arbeitet als Schulwegbegleiterin an der Schule von Susiya. Doch der Schulweg ist nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich. Ola kam etwas verspätet zu unserem Interview. Auf dem Nachhauseweg mussten sie und die Schulkinder, die sie begleitete, länger als geplant in der Schule ausharren, weil Polizei und Armee in der Nähe waren. Erst als die Sicherheitskräfte verschwunden waren, konnten sie den Weg nach Hause antreten.
Dalia, 12 Jahre alt, lebt mit ihren drei Geschwistern und ihren Eltern ebenfalls in Susiya. Sie hat gerade die 5. Klasse abgeschlossen und kommt nach der Sommerpause in die 6. Klasse in dem hiesigen Dorf. Sie trifft sich gerne mit ihren Freundinnen zum Spielen, hilft ihrer Mutter und Tante im Haushalt. Sie bewundert ihre Mutter – sie sei ihr Rückhalt, ihre Ratgeberin, ihr Vorbild. Während des Interviews werden wir häufig von spielenden Kindern oder Familienmitgliedern unterbrochen. In der kleinen Behausung der Familie gibt es kaum Rückzugsmöglichkeiten für das heranwachsende Mädchen.

Was Amal, Ola und Dalia mir berichteten, habe ich im Folgenden zusammengefasst.
Hat sich Euer Leben hier in den South Hebron Hills seit dem 7. Oktober verändert?
Seit dem 7. Oktober hat Amals Familie kein Einkommen mehr. Die Familie lebt von der Schafzucht und von dem, was sie selbst auf dem kargen Boden anbauen können sowie von Gelegenheitsjobs der Söhne. Zuvor konnten die Männer der Familie mit Arbeitsgenehmigungen in Israel arbeiten – diese werden nun nicht mehr erteilt. Damit fällt eine der wenigen Möglichkeiten weg, den Lebensunterhalt zu sichern. Auch für Dalia hat sich der Alltag verändert. Unbeschwert draußen zu spielen, ist kaum noch möglich. Sie achtet ständig darauf, wer sich nähert – Siedler oder Soldaten könnten jederzeit auftauchen. Besonders wenn sie mit anderen Mädchen unterwegs ist, steigt das Risiko, zur Zielscheibe zu werden. Sie hat das Gefühl, dass Gruppen junger Mädchen von Siedlern häufig als besonders verletzlich wahrgenommen werden.
Wie beeinflusst die israelische Besatzung heute euren Alltag?
Obwohl die Stadt Yatta in fußläufiger Entfernung liegt – kaum 40 Minuten entfernt – ist es für Amal und Ola kaum möglich, sie alleine zu erreichen. Die Angst, auf dem Weg von Siedlern oder Soldaten angegriffen oder belästigt zu werden ist zu groß. Gleichzeitig kann das Haus nicht unbewacht bleiben – zu oft wurden verlassene Häuser durchsucht oder geplündert. Ein Stadtbesuch muss deshalb genau geplant werden. Nachbarn oder Verwandte werden gefragt, ob sie begleiten können.
In der Gemeinde hilft eine eigene WhatsApp-Gruppe bei der Koordination. Wer muss einkaufen, wer zum Arzt, wer kann wen begleiten? Doch selbst mit Unterstützung sind alltägliche Erledigungen zu einem großen Kraftakt geworden. Im Notfall – etwa bei einer Geburt oder einem medizinischen Notfall – kann die Fahrt ins Krankenhaus bis zu zwei Stunden dauern. Krankenwagen werden regelmäßig an Checkpoints angehalten oder gar abgewiesen und müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.[7] Laut Ola muss zunächst mit den palästinensischen und den israelischen Behörden geklärt werden, ob der Krankenwagen überhaupt losfahren darf. Dies dauert teilweise länger als zwei Stunden. Oft bleibe als letzte Option nur, mit einem nicht registrierten Fahrzeug zu fahren – trotz der Risiken. Das ist in vielen Fällen immer noch schneller.
Wie funktioniert Schulbildung in einer herausfordernden Realität?
Amal verließ die Schule nach der sechsten Klasse, weil sie zu Hause gebraucht wurde. Später verdiente sie mit Stickerei etwas dazu – bis ihr ältester Sohn in einen Brunnen fiel und querschnittsgelähmt wurde. Erst neun Jahre später, so erzählt sie mir, konnte über eine Hilfsorganisation ein Rollstuhl organisiert werden.
Ola beendete die Schule nach der 11. Klasse. Seit vier Jahren arbeitet sie als Schulwegbegleiterin und Reinigungskraft in Susiya. Für ihre Arbeit erhält sie ein monatliches Gehalt von 1.050 NIS (etwa 260 EUR). Ihre Aufgabe ist es, die Kinder sicher zur Schule und wieder nach Hause zu bringen. Täglich läuft sie mit einer Gruppe von Kindern etwa zwei Kilometer zur Schule und zurück zu Fuß. Der Schulweg gleicht einer kleinen Wanderung – es gibt keinen befestigten Weg. Ola und die Kinder klettern über Steine und laufen durch Olivenhaine.

Eigentlich machbar – doch seit dem 7. Oktober ist ihre Arbeit mit großer Gefahr verbunden. Ola lebt in ständiger Anspannung. Die Angst vor Übergriffen begleitet sie – besonders durch Siedler, die immer wieder Kinder und Erwachsene auf dem Schulweg einschüchtern. Erst vor kurzem wurden Ola und die Kinder von Siedlern auf Pferden verfolgt. Die Männer machten Fotos von ihnen – ein gezielter Akt der Einschüchterung. Situationen wie diese gehören zum Alltag. Eines Tages, so Ola weiter, drang ein Siedler während des Unterrichts in die Schule ein und griff einen Lehrer an. Auch nicht im Schulgebäude sicher sein zu können ist eine unendliche Belastung. Ola sagt: „Wir können nicht einfach herumlaufen, wir können nicht normal zur Schule gehen, wir können auf dem Weg nicht herumalbern.“
Auch die Präsenz von Militär und Polizei macht den Alltag unberechenbar. Die Wetterbedingungen erschweren den Schulbesuch zusätzlich: Im Sommer sind sie extremer Hitze ausgesetzt, im Winter macht Regen den Boden matschig und rutschig. Die Gebäude sind nicht isoliert. Die Schüler:innen und Lehrer:innen sitzen mit Winterkleidungen in den Räumen, um nicht zu frieren.
Dalia ist eines der Kinder, das Ola in die Schule begleitet. Obwohl sie einige Lieblingsfächer hat, wie Arabisch, Englisch und Mathe, sagt sie, dass sie die Schule hasst. Die ständigen Bedrohungen der Siedler und die Wetterbedingungen machen den Schulweg unerträglich für Dalia. Nicht immer ist sie in der Lage in die Schule zu gehen, weil es zu gefährlich ist. Vor dem 7. Oktober fand der Unterricht regulär von Sonntag bis Donnerstag statt. Mit dem Beginn des Krieges wurde der Unterricht mehrere Monate online abgehalten. Eine zusätzliche Belastung für Eltern und ein Verlust für die Kinder angemessenem Zugang zur Schulbindung zu erhalten. Ola berichtet, dass die Schule beim Bildungsministerium einen Antrag auf Schulbusse gestellt hat, um den Schulweg sicherer zu machen. Dieser Antrag wurde jedoch abgelehnt.
Wie geht ihr mit der psychischen Belastung um?
Siedler klopfen nachts an Fenster, bewaffnet. Fenster zerbrechen, Kinder wachen weinend auf, machen ins Bett. Ola lebt mit ihren Kindern alleine – ihr Mann ist die meiste Zeit bei seiner zweiten Frau. Besonders nachts ist die Angst unerträglich. Die Kinder verarbeiten in der Nacht ihre Traumata vom Tag. Ola sagt: „Es gibt keine Sicherheit, wir leben durchgehend mit dem Stress, es gibt keine Pause, die Situation ist so unvorhersehbar”.
Seit dem 7. Oktober kann Amal sich nicht mehr ausruhen. Amal und ihre Familie essen in Schichten, damit immer jemand die Überwachungskameras im Auge behält. In Masafer Yatta unterstützen israelische und internationale Aktivist:innen die Dorfbewohner:innen in ihrem Alltag durch ihre schützende Präsenz. Die Aktivist:innen stehen den Familien bei, wenn es zu Bedrohungen durch Siedler, Polizei oder Armee kommt, und dokumentieren die Vorfälle. Diese werden an weitere Institutionen weitergegeben. Ohne die Aktivist:innen, so Amal, würde sie sich noch schutzloser und der Situation willkürlich ausgesetzt fühlen.
Auch Dalia fürchtet sich – vor Angriffen von Siedlern, vor der Armee, vor der Angst, dass ihr Vater und ihre Brüder verhaftet werden. Trost findet sie beim Koranlesen und in der Nähe ihrer Familie.
Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Amal wünscht sich ein friedliches Leben für ihre Kinder und Enkelkinder, genug zu essen und ein sicheres Zuhause. Dass ihr Sohn regelmäßig seine Medikamente erhält. Sie sagt: “Die Besatzung hat unsere Wünsche und Träume zerstört.“
Auch Ola träumt von Freiheit und davon, dass ihr Land nicht weiter besetzt bleibt.
Dalia wünscht sich Sicherheit, Freiheit und ein Palästina, in dem alle Kinder gleich sind und ohne Angst zur Schule gehen können.
Was ist eure Botschaft?
„Wir wollen etwas Reales. Wir wollen, dass Menschen aktiv werden – und nicht nur Fragen stellen.“ Zu oft, so sagen die Frauen, kämen internationale Vertreter:innen, hörten zu – und kämen nie wieder. Die Frauen wollen keine Mitleidsbekundungen, sondern echte Solidarität. „Wir wollen, dass die ganze Welt sich hinter uns stellt, um die Besatzung zu beenden. Wir sind Menschen. Wir haben Rechte.”
Die Besatzung ist nicht nur politisches System – sie ist gelebte Realität, voller Schmerz und Unsicherheit. Und dennoch: Amal, Ola und Dalia stehen auf – jeden Tag. Für sich, für ihre Kinder, für ein Leben in Würde.
Nadja, im Juni 2025
*Namen geändert
Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] Alternative Schreibweisen Amniyr oder Khirbet Um Nir
[2] https://www.btselem.org/planning_and_building
[3] https://www.deutschlandfunk.de/israel-kuendigt-den-bau-neuer-siedlungen-im-westjordanland-an-100.html
[4] Alle Zitate im Text wurden von der Autorin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt
[5] https://www.dw.com/en/west-bank-village-struggles-against-demolition/a-16074023
[6] https://www.972mag.com/palestinian-village-of-susya-faces-imminent-demolition-threat/
[7] https://www.msf.org/occupied-palestinian-territories-israel’s-coercive-measures-undermine-people’s-health-masafer-yatta