Es ist ein ganz gewöhnlicher Freitag im Flüchtlingslager Aida in Bethlehem. Wochenende. Jungs zwischen 8 und 12 Jahren sitzen am Straßenrand. Spielen… Tippen auf ihren Handys… Fahren mit Fahrrädern die Straße entlang…
Zwei von ihnen sitzen im Antiquitätenladen in einer Garage, wo man vom alten Fleischwolf ohne Kurbel, über diverse Radios aus der Weltkriegs- und Nachweltkriegszeit, bis zur Flachschreibmaschine alles erwerben kann, was man sonst nur beim Souterrain-Trödler in Berlin-Kreuzberg findet.
Ungewöhnlich ist: Auf der anderen Seite der Straße steht eine Mauer. Oben befestigt ist Stacheldraht. Kunstwerke von Graffiti darauf gemalt. Dies erinnert sehr an die Mauer in Berlin. Zweimal eine B-Stadt – zweimal Mauer!
Wie aus dem Nichts biegt am oberen Ende der Straße ein Fahrzeug der israelischen Armee um die Ecke in die Straße ein, in der wir stehen, fährt mit hoher Geschwindigkeit den Hügel herab – und schießt ohne jeden Anlass eine Salve in die Gruppe.
Ein Zischen und plötzlich verschwinden die Jungs im Nebel. Tränengas! Und als wäre es eingeübt, vermummen sich die Jungs und holen ihre Steinschleuder heraus.
Nur leider ist dies kein Spiel. Denn nun beginnen die Soldaten auf der anderen Seite zu schießen, Gummimantelgeschosse, vielleicht auch scharfe Munition, wer weiß das schon. Es spielt auch keine Rolle, denn die Jungs wissen, beides kann tödlich sein. Im Oktober 2015 war der 13jährige Abdel Rahman Obeidallah bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und israelischer Armee von einem Scharfschützen erschossen wurden, er hatte aus einiger Entfernung zugeschaut. Die Armee sprach später von einem Versehen, eine Untersuchung wurde eingeleitet, bisher ohne Ergebnis. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem fordert seit Jahren, die israelischen Sicherheitskräfte mögen die Verwendung tödlicher Mittel zur Kontrolle palästinensischer Proteste einstellen (1) . Auch dies bisher ohne Erfolg.
Kaum nachdem der erste Schuss gefallen und die erste Tränengasgranate eingeschlagen ist ziehen die Beiden aus dem Laden das Eisengitter herunter und machen sich davon. Die Auseinandersetzung zieht weitere Jugendliche und junge Erwachsene an, Steine und Metallteile fliegen, manche sind schon fast „professionell“ mit Gasmasken ausgerüstet, um noch mitten in den Tränengasschwaden ihre Schleudern zu schwingen.
Ein ganz gewöhnlicher Freitag in Bethlehem – seit Jahren, im Schatten der Mauer.
Hintergrundinformationen:
Das Aida Refugee Camp wurde 1950 von Flüchtlingen aus der Region Jerusalem und Hebron gegründet. Knapp über 1000 Menschen lebten hier zunächst in Zelten, betreut von der UNWRA (2). Mittlerweile sind aus den Zelten Häuser geworden, im Camp leben nun etwa 5500 Menschen. 2004 begann Israel mit dem Bau der Trennbarriere am Aida Refugee Camp. Wo Kinder und Familien einst in Olivenhainen spielen und picknicken konnten steht nun eine 8 Meter hohe Mauer mit Wachtürmen. Fast täglich kommt es seither zu Zusammenstößen mit der israelischen Armee, nächtliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen sind ebenso Alltag im Aida Camp.
Einrichtungen wie das Lajee Center (3) versuchen durch Kultur- und Bildungsangebote den Kindern und Jugendlichen des Camps eine Alternative zur täglichen Gewalt zu bieten und ihnen neue Horizonte zu eröffnen.
[1] http://www.haaretz.com/israel-news/1.679081
[2] Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten
[3] http://www.lajee.org/
Monika, November 2016