Teil 1 der Portraitreihe: Unter Besatzung – Palästinensische und israelische Alltagsstimmen
Hashem (52) hat die EAs zu sich nach Hause eingeladen. Doch es ist nicht so einfach zu ihm nach Tel Rumeida zu kommen und es war in der Vergangenheit sogar fast unmöglich. Zunächst müssen wir den militärischen Kontrollpunkt passieren. Mit Ausnahme von uns Internationalen dürfen das nur diejenigen Palästinenser*innen, die in diesem Bereich von H2 auch wirklich wohnen. Danach quetschen wir uns an einem israelischen Krankenwagen vorbei, der Hashem zufolge dort die meiste Zeit parkt und den Zugang zu seinem Weg fast komplett blockiert.
Hashems Haus, das im Besitz seiner Familie ist, seit dem diese 1948 während der Nakba aus Jaffa geflohen ist, grenzt nun direkt an die illegale, in den 1980ern gegründete jüdische Siedlung in Tel Rumeida. Dieser Stadtteil Hebrons liegt im H2-Bereich, der vom israelischen Militär kontrolliert wird. Laut Hashems Aussage tun die Siedler*innen und Soldat*innen alles, um ihn von dort zu vertreiben: Sie haben seine Pflanzen (hauptsächlich Obstbäume) vergiftet, werfen Steine und Müll auf sein Grundstück, haben in der Vergangenheit sein Haus immer wieder regelrecht belagert und ihn und seine Frau tätlich angegriffen. Er habe dabei mehrere Narben davongetragen und einen Zahn verloren, seine Frau Nisreen schon zwei ungeborene Babys.
Nun führt seit drei Jahren ein schmaler, fast zugewachsener Weg zu seinem Haus und Grundstück, den der großgewachsene Hashem und wir EAs überwiegend gebückt überwinden müssen. Das Recht auf diesen alternativen, schmalen Trampelpfad hat er sich 13 Jahre lang vor Gericht erkämpft. „Ich glaube an meine Rechte und habe immer noch Hoffnung. Deshalb höre ich nicht auf, zu kämpfen und mich zu engagieren“. Zuvor war der eigentliche Zugang gesperrt worden, weshalb Hashem berichtet, dass er jedes Mal die Grundstücksmauer empor klettern musste, um sein Haus zu erreichen.
Einer seiner direkten Nachbarn ist der rechts-nationalistische und ultra-orthodoxe Siedler Baruch Marzel, der für seine araberfeindlichen Äußerungen bekannt ist und am liebsten alle Feinde des Landes Israel – jüdische wie arabische (palästinensisch existiert in seiner Vorstellung nicht) – aus dem Land werfen würde. Zudem feiert er öffentlich Baruch Goldstein, jenen ultra-orthodoxen Siedler, der 1994 ein Massaker an betenden Muslim*innen in der Ibrahimi Moschee in Hebron verübt hat (29 Tote, etwa 100 Verletzte).
Es ist sehr beklemmend, Hashems Erzählungen zu folgen. Vor allem, da alles andere friedlich und gemütlich wirkt: Seine Kinder (zwei Mädchen (17 und fünf Jahre alt) und zwei Jungen (zwölf und sieben Jahre alt)) rennen durch das Haus und streiten sich dabei wie es Kinder überall auf der Welt tun, der älteste Sohn bringt uns Tee und Kaffee und an den Wänden im Wohnzimmer und im Flur hängen verschiedene Bilder, die Nisreen, die Kunst in Amman studiert hat, selbst gemalt hat. Sie zeigen zumeist das gleiche Thema: Palästinas Sehnsucht nach Frieden und Freiheit.
Doch friedlich ist es hier kaum und auch zwei Nächte zuvor nicht. Familie Azzeh hatte zwei italienische Gäste zu Besuch, als fünf Soldat*innen um 00:20 Uhr morgens gegen die Haustür traten bis sie geöffnet wurde und alle Bewohner*innen im Haus wach waren. Alle, auch die Gäste und Kinder, mussten draußen warten, während die Soldat*innen das Haus von oben bis unten durchsuchten. Doch Hashem gab nicht klein bei und beobachtete die Soldat*innen genauestens, da es oft genug zu Diebstählen durch das Militär komme. Zudem wies er sie zurecht: „Hört auf zu schreien und zu schubsen! Wenn ihr unser Haus schon kontrollieren müsst, dann tut es wenigstens auf eine höfliche Art und Weise!“ Nach etwa einer Stunde waren die fünf Militärs wieder verschwunden, aber sie hinterließen ein riesiges Chaos. Alle Kleidungsstücke und andere Inhalte der Schränke waren auf dem Boden verteilt. Einzig das Wohnzimmer, in dem die internationalen Gäste geschlafen hatten, hatten sie sich nicht getraut zu durchwühlen. „Das passiert jeden Monat, das ist schon fast Routine!“
Er erzählt uns außerdem, dass er in vielen verschiedenen Projekten und Organisationen aktiv ist, so unter anderem auch in der Ibrahimi Al-Khalili Association oder in der American Heart Association. Ich frage ihn, ob er denn noch Hoffnung sehe, für sich persönlich, aber auch in dem Konflikt allgemein. Seine Antwort ist deutlich: „Natürlich habe ich Hoffnung, sonst würde ich das alles hier nicht machen!“ Abgeordneten des EU-Parlaments, die er getroffen hat und die gefragt haben, wie sie helfen könnten, antwortete er: „Ich will kein Geld, ich will, dass ihr euch für Palästina, für die Palästinensische Bevölkerung als Ganzes einsetzt!“ Ohne internationalen Druck wird es wohl nicht funktionieren, aber auch die palästinensische Regierung müsse sich verändern und aktiver werden. „Attacken der Siedlerinnen und Siedler nehmen immer weiter zu. Sie können sich frei bewegen und machen, was sie wollen!“ Diesen Eindruck teilt auch die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din und bestätigt es in einem aktuellen Bericht. Hashem und seine Familie spürten das täglich.
Corinna, Juli 2015