Jihad ist eine resolute und gleichzeitig herzliche Frau. Sie leitet das Women’s Development Center in Anabta, einem kleinem Städtchen zwischen Tulkarm und Nablus. Als Lisa, die aus Irland stammt und die einzige Frau in unserem Team aus drei EAs hier in Tulkarm ist, davon hört, dass es ein solches Zentrum für Frauen gibt, ist es ihr sofort ein Herzensanliegen, dieses Zentrum zu besuchen, um etwas über die Situation von Frauen in der palästinensischen Gesellschaft zu erfahren.
Für Jihad hat sich mit der Eröffnung des Hauses ein Herzenswunsch erfüllt. Sie hat ihr ganzes Berufsleben für verschiedene NGOs gearbeitet hat, die sich für die
Rechte und die Verbesserung der Situation der Frauen einsetzen. Das Women’s Center ist in einem alten, restaurierten Wohnhaus im Ortskern von Anabta untergebracht. Es verfügt über mehrere große Räume, die sich um einen Innenhof gruppieren. Es gibt ein kleines Fitness-Studio, einen Saal, der für Veranstaltungen und Kurse genutzt wird, einen Computerraum und eine große Küche. Als Lisa Jihad dort besucht hat, fand gerade ein Kunstkurs statt. Und eine andere Gruppe hat ein Bücherregal für eine Bibliothek aus gebrauchten Paletten gebaut. Wichtiger aber noch als die konkreten Angebote ist für die Frauen die Möglichkeit, sich einfach einmal abseits und außerhalb ihrer Familien treffen zu können.
Wir drei sind einfach davon ausgegangen, dass Lisa dort alleine hingehen sollte, denn schließlich handelt es sich ja um ein Women’s Center, und wir Männer im EAPPI-Team dachten, wir wären da nur ein Fremdkörper. Auch Lisa hat das anfänglich gedacht. Als sie dann zum vereinbarten Zeitpunkt dort eintraf, wurde sie anstatt von Jihad zunächst von ihrem Mann Nihad empfangen. Nach anfänglichem Befremden darüber, was ein Mann in einem Frauenzentrum zu suchen hat, hat sie doch bald bemerkt, dass auch Nihad eine resolute und gleichzeitig herzliche Person ist. Er scheint gleichsam die männliche Ausgabe seiner Frau Jihad zu sein. Die beiden sind schon im Rentenalter und wohl im Laufe der Jahre zu einem unzertrennlichen Paar zusammen-gewachsen.
Sofort hat sich Nihad in spöttischem Ton darüber beschwert, dass Federico und ich nicht mitgekommen sind. Das ginge nicht, wir müssten unbedingt vorbeikommen. Spontan hat er Lisa beauftragt, uns anzurufen und uns zur Geburtstagsfeier seiner Tochter am Abend einzuladen.
Also hatten wir drei plötzlich eine Einladung zu einer privaten Familienfeier, d.h. wir wurden zu viert eingeladen: Lisa, Federico, ich und unser Fahrer Imad. Imad war es auch, der eine Parfümerie kannte, in der wir noch schnell ein Geburtstagsgeschenk kaufen konnten. Als wir gegen 19:00 im Haus von Jihad und Nihad eintrafen, war es schon dunkel. Wir wurden von der ältesten Tochter empfangen, die uns in die gute Stube führte, in der Jihad und Nihad es sich schon gemütlich gemacht hatten. Die beiden haben insgesamt drei Töchter, die allesamt studieren (Jura, Sozialarbeit, Jura), und einen älteren Sohn, der in den USA lebt und deshalb auch nicht anwesend war. Während die drei Töchter in der Küche verschwanden, werden wir von den Eltern über unsere Erfahrungen und Eindrücke in den ersten Wochen in Palästina ausgefragt.
Zum Abendessen gibt es Berge von Salat, panierten Truthahnbrustfilets und Pommes Frites. Wir schlagen uns alle den Magen voll. Die Atmosphäre ist herzlich und ausgelassen. Man spürt die Wärme und Liebe, die die Eltern ihren Töchtern entgegenbringen und die Töchter erwidern. Nach dem Essen werden die Geschenke überreicht. Es ist die mittlere Tochter, die Geburtstag hat. Sie bekommt als Hauptgeschenk ein neues Huawei Smartphone. Auch unsere Kollektion von Eau de Toilette wird mit Wohlwollen entgegengenommen.
Wir singen zusammen „Happy Birthday“, und dazu packt Federico, der ein guter Musiker ist, seine Gitarre aus. Anschließend spielt und singt er für uns seine lateinamerikanischen Weisen. Beim Che Guevara Song können wir alle mit einstimmen, und wir tun es mit Inbrunst. Jihad und ihre Töchter singen abwechselnd palästinensische Volkslieder und uralte ägyptische Schlager. Nihad, der Vater, brummt leise mit. Plötzlich merken wir, dass sein Brummen in ein friedvolles Schnarchen übergegangen ist. Seine Töchter brechen in schallendes Gelächter aus.
Als wir wieder im Auto sitzen und auf der Rückfahrt zu unserem Appartement sind sagt Federico: „Das war ja ein Abend ganz genauso wie bei uns in Uruguay!“ – Wenn wir einfach nur Menschen sein dürfen, spielt es keine Rolle, ob wir aus Irland, Uruguay, Deutschland oder Palästina kommen.
Jochen, März 2018