Am 5. Mai ereignete sich eine beispiellose Zerstörungsaktion im Dorf Khallet Athaba in den Hügeln südlich der Stadt Hebron, die das Leben zahlreicher Menschen grundlegend verändert hat. In weniger als 90 Minuten wurden Lebensrealitäten dem Erdboden gleichgemacht: über 25 Gebäude, darunter Wohnhäuser, Höhlen, Ställe, Wassertanks, Toiletten, Brunnen, Wasserleitungen, Solaranlagen und ein Gemeindezentrum.
Von den Einwohner:innen des Dorfes und von israelischen Aktivist:innen werden wir später folgende Beschreibung der Geschehnisse hören: In den frühen Morgenstunden rollen zwei Bagger und zwei Bulldozer aus den Toren der nahegelegenen israelischen Siedlung Ma`on – begleitet von Militärjeeps, bewaffneten Soldat:innen und Beamt:innen der israelischen Zivilverwaltung. Die Siedlung wurde nach internationalem Recht illegal auf palästinensischem Land errichtet.
Wenn sich die gelben Bulldozer, die „yellow monsters“, wie manche sie hier nennen, in Bewegung setzen, bedeutet das für viele: Vertreibung, Gewalt und Verlust von allem, was sie sich über Jahre aufgebaut haben. Familien werden ihre Häuser verlieren, in denen sie nur wenige Stunden zuvor aufgewacht sind.

Ohne jede Vorwarnung beginnt die israelische Armee an diesem Morgen mit der großflächigen Zerstörung des Dorfes. Über zwei Drittel aller Gebäude und Infrastruktur von Khallet Athaba werden innerhalb kurzer Zeit abgerissen. 120 Menschen leben hier, verteilt auf ca. 20 Familien – viele von ihnen bereits seit Generationen. Die betroffenen Familien hatten keine Chance, sich auf die Zerstörung vorzubereiten und ihre Habseligkeiten aus dem Haus zu schaffen, bevor die Schaufeln der Bagger in die Häuser einschlugen. Frauen und Kinder weinten am Rand ihres zerstörten Dorfes. Tiere liefen panisch und ziellos durch die Gegend. Zurück bleibt ein Bild völliger Verwüstung und der heiße Wind, der über die Schutthaufen weht, wo gestern noch ein Zuhause war.

Zwei Tage später machen wir – mein Team und ich – uns auf den Weg dorthin. Wir wollen mit den Menschen sprechen, dokumentieren, zuhören. Doch schon die Anreise ist schwierig. Auf halbem Weg treffen wir einen Mann auf einem Esel. Er rät uns von unserem geplanten Weg ab. Vor ein paar Tagen wurde er mit seinem Auto vom Militär angehalten. Das Militär habe ihm die Autoschlüssel abgenommen und ihn verprügelt.
Wir kehren um, und versuchen eine alternative Route zu finden. Die Warnung war eindeutig, die Gefahr zu groß. Wir erreichen das Dorf Um Fagarah von dort aus geht es zu Fuß nach Khallet Athaba.
Khallet Athaba liegt im südlichen Westjordanland, in der sogenannten Feuerzone 918, einem Übungsgebiet, das in den späten 1980er Jahren vom israelischen Militär errichtet wurde.[1] Die Zone umfasst ca. 30 Quadratkilometer, in der 12 palästinensischen Dörfer liegen.[2] Obwohl die dortigen Dörfer seit Generationen – teils seit der Zeit des Osmanischen Reichs existieren, wird ihre Daseinsberechtigung seit Jahrzehnten in Frage gestellt. Im Mai 2022 entschied der Oberste Gerichtshof Israelis, dass die Bewohner:innen der palästinensischen Dörfer zugunsten der Durchsetzung der Firing Zone 918 vertrieben werden dürfen.

Die Menschen hier sind Schikanen und Gewalt seitens Armee und Siedler:innen ausgesetzt, Gebäude werden abgerissen, neue Siedleraußenposten geduldet und sogar unterstützt. Die Bewegungsfreiheit der Menschen ist stark eingeschränkt, das israelische Militär kann jederzeit Fahrzeuge zum Anhalten und Umdrehen zwingen oder gar konfiszieren. Selbst unsere Präsenz und die anderer internationaler und israelischer Begleiter:innen wird als Störung angesehen. Trotz juristischer Kämpfe und teurer Verfahren vor dem israelischen Obersten Gerichtshof leben die Familien in einem Zustand permanenter Unsicherheit. Die jüngste Zerstörung ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer systematischen Politik: gezielte Verdrängung unter dem Deckmantel von „militärischen Sperrgebieten“, begleitet von rechtlichen Schikanen und physischer Gewalt. Die Vertreibungen widersprechen dem humanitären Völkerrecht.
In Khallet Athaba war es die dritte Zerstörungsaktion allein in diesem Jahr, wenngleich mit Abstand die größte. In einem Bericht der israelischen Organisation Bimkom – Planners for Planning Rights zur Situation der Dörfer in der Firing Zone 918, hieß es bereits 2022: „Alle 83 Einwohner von Khalat ad-Daba’a könnten jederzeit obdachlos werden, da der Staat behauptet, dass das Dorf „die Bewegungsfreiheit der Einsatzkräfte erheblich einschränkt und eine effektive Nutzung der Feuerzone erschwert“.[3]

Bei unserem Besuch vor Ort wurden Ausmaß und Tragweite der Zerstörung sichtbar. Nur fünf Häuser und die kleine Grundschule stehen noch. Die restlichen Gebäude – verschwunden. Mehr als 15 Familien sind obdachlos. Die Familien harren unter freiem Himmel aus, mit dem Wind als einzigen Begleiter. Sie werden die Nacht draußen schlafen – wo sollen sie auch hin? Viele sind „confused – verstört“, wie sie selbst sagen – orientierungslos und verzweifelt. Wir sprachen mit einem Vater, der seine Hilflosigkeit in Worte fasste: „Als Vater ist es meine Verantwortung, meine Kinder zu beschützen. Aber als das Militär kam, musste ich einfach neben den großen gelben Monstern stehen und konnte nichts tun. Meine Liebe, meine Erinnerungen sind hier. Alles ist vor meinen Augen zerstört worden.”[4]
Trotz der Traumatisierung gibt es etwas, das bleibt: Resilienz. Ein unerschütterlicher Wille, zu bleiben – auf dem eigenen Land, in der eigenen Geschichte verwurzelt. „I will sleep here under this tree. I won’t leave. – Ich werde hier unter diesem Baum schlafen. Ich werde nicht weggehen.“

Der Mut der Menschen, die in Khallet Athaba bleiben, unter widrigsten Bedingungen, verdient unsere Aufmerksamkeit – und unsere Solidarität. Die Stimmen aus Khallet Althaba verdienen Gehör – nicht nur heute, sondern so lange, bis Gerechtigkeit und Sicherheit für alle Menschen in dieser Region Realität geworden sind.
Nadja, im Mai 2025
Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] Ausführliche Informationen zur Firing Zone 918 und Karte: https://www.ochaopt.org/content/masafer-yatta-communities-risk-forcible-transfer-june-2022
[2] https://www.english.acri.org.il/post/eviction-of-villagers-in-the-masafer-yatta-area-of-the-south-hebron-hills
[3] https://bimkom.org/eng/wp-content/uploads/Firing-Zone-918_Masafer-Yatta_ToolsForSettlementExpansion_102422.pdf.pdf
[4] Übers. d.A., Original: „As a father it is my responsibility to protect my children. But when the military came, I just had to stand next to the big yellow monsters and couldn’t do anything. My love, my memories are here. Everything is destroyed in front of my eyes.”