„Gewalt hilft nicht. Sie erzeugt weitere Gewalt und tötet jeden”, sagt Faisal aus Hizma, einer der frühen Mitglieder der Combatants for Peace. In dieser Organisation haben sich ehemalige palästinensische Kämpfer und ehemalige israelische Soldaten zusammengetan, um gewaltfrei miteinander für einen gerechten Frieden einzutreten. Faisal ist überzeugt, dass eine bessere Zukunft für alle Beteiligten nur mit friedlichen Mitteln und gemeinsam erreicht werden kann.
Aktives gewaltfreies Handeln, wie etwa das Engagement der Combatants for Peace, ist keine Selbstverständlichkeit in einem Umfeld, das seit Jahrzehnten geprägt ist von Gewalt, von Kriegen, Besatzung, gegenseitigem Misstrauen und persönlichen schmerzhaften Verlusten. Wenn Menschen Gewalt anwenden, hören wir das in den Nachrichten. Wovon jedoch selten Notiz genommen wird, ist die Art und Weise, wie die große Mehrheit der Menschen hier unter der Besatzung und den damit verbundenen Rechtsverletzungen würdevoll, gewaltfrei und standhaft den eigenen Werten treu bleiben, auch wenn ihnen Gewalt und Repressalien widerfahren. “Sumud” wird diese ausdauernde Standhaftigkeit im palästinensischen Sprachgebrauch genannt – zu bleiben, sich tagtäglich den Realitäten zu stellen, Unrecht mit rechtlichen Mitteln zu begegnen, sich nicht provozieren zu lassen, Gemeinschaft zu pflegen, etwa durch das Praktizieren des eigenen Glaubens und die Pflege der palästinensischen Identität und Kultur. “Wir unterstützen einander, wir halten zusammen”, so schildert eine junge Mutter in Sheikh Jarrah, einem von Siedlergewalt betroffenen Stadtteil von Jerusalem, eine weitere Quelle von Sumud.
Es ist Freitagmittag in Jerusalem. Menschen muslimischen Glaubens strömen für das wichtigste Gebet der Woche zur Al Aksa Moschee. Schon die Straße, die zum Lions Gate der Altstadt hinaufführt, ist von einem Checkpoint versperrt. Einzeln werden die Menschen durch einen schmalen Gang geschleust. “You? – No!” sagt eine Soldatin in herablassendem Ton zu einem jungen Mann, der die Straße hinauf gehen möchte. Ohne auch nur einen Blick auf seine Dokumente zu werfen weist sie ihn an, durch einen extra dafür aus Metallgittern erbauten Gang zurückzugehen. Kommentarlos macht er mit gesenktem Kopf kehrt.

Bis zum Haram al-Sharif, dem Plateau des Tempelbergs, auf dem die Al Aksa Moschee und der Felsendom stehen, müssen die Gläubigen mindestens zwei weitere Checkpoints passieren: Am Lions Gate, jenem Tor der Altstadt, das dem Haram al-Sharif am nächsten liegt, stehen weitere 7 Soldat:innen. Sie prüfen Ausweise und Gesichter und weisen Menschen zurück. An jedem Eingang zum Haram al-Sharif und an weiteren Stellen in der Altstadt verteilt stehen Militärposten und überprüfen Menschen auf dem Weg zum Gebet, durchsuchen Taschen und Kleidung, stellen Fragen und entscheiden über den Zugang der Gläubigen zum Gottesdienst.
Insbesondere junge Männer werden in großen Mengen zurückgewiesen. Heute zählen wir allein an einem Eingang 113 Zugangsverweigerungen innerhalb einer Stunde. Es gibt Soldat:innen, die ruhig und sachlich vorgehen und andere, die provokant und abfällig mit den Menschen umgehen. Wir sehen, wie Menschen von Soldat:innen mit abwertenden Gesten ohne weitere Erklärung zurückgewiesen und beim Weggehen noch in den Rücken geschubst werden. Zwei Jungen im Alter von etwa 10 Jahren wird der Zutritt zur Moschee verwehrt. Familien, die gemeinsam zum Gottesdienst gehen wollen, müssen sich von den Abgewiesenen trennen oder sie beschließen, heute alle auf den Gottesdienst zu verzichten.
Ohne Gegenrede machen die Menschen kehrt. Einige versuchen es noch an einem zweiten oder dritten Eingang. Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertsein an die Willkür der Soldat:innen vermitteln sich. Was machen die Menschen mit diesen demütigenden Erfahrungen?
Bei den Ankommenden ist die Anspannung spürbar. Aufrecht, zügig und möglichst beiläufig versuchen sie, dieses Nadelöhr zu passieren, das ihr international verbrieftes Recht auf Zugang zu Gottesdiensten in Frage stellt. Sie gehen im Pulk – ich habe den Eindruck, dass die Gemeinschaft sie stärkt. Manch ein Vater fasst seinen Sohn um die Schulter, Mütter halten ihre Kinder an den Händen. Sie behaupten sich, sie gehen Ihrem wöchentlichen Glaubensritual nach, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Eines Abends sehe ich vor dem Lions Gate ungefähr 50 junge Männer in kleineren Gruppen stehen. Still, traurig und fassungslos blicken sie auf drei Soldat:innen, die Ihnen den Eingang verwehren. Ein junger Freund und Verwandter von ihnen ist am Tag zuvor verstorben. In der Moschee findet nun der Trauergottesdienst statt, dem sie alle nicht beiwohnen können.
Trotz aller Provokation, Verachtung und Bedrängung strömen viele Menschen stolz, ruhig, würdevoll, selbstverständlich und im Wissen um die Notwendigkeit des Gebets Tag für Tag und Woche für Woche zur Moschee, um ihrer Glaubenspraxis nachzugehen. Der Glaube scheint ein Teil dessen zu sein, was ihre Standhaftigkeit ermöglicht.
Ich beobachte eine innere Unbeirrbarkeit, sich nicht vom eigenen Weg abbringen zu lassen. “Ich weiß, ich werde beleidigt und verletzt werden, aber ich gehe trotzdem, ich muss gehen”, so beschreibt der Ost-Jerusalemer Buchhändler Mahmoud Muna vom international bekannten Educational Bookshop die Haltung der Gläubigen. “Wir betreten damit eine höhere moralische Ebene, die geprägt ist von dem Wunsch, besser zu sein, besser zu handeln, sich besser zu verhalten. Aufgeben ist keine Option.” Er zitiert den palästinensisch-amerikanischen Literaturtheoretiker Edward Said: “In Zeiten von Grausamkeit und Ungerechtigkeit bedeutet Hoffnungslosigkeit Unterwerfung, die meiner Meinung nach unmoralisch ist.”
Im Flüchtlingslager von Kalandia sprechen wir mit Fadwa und Rawan, Mutter und Tochter, die hier wohnen. Fadwa hat vor neun Jahren das Zentrum Majedat al-Quds gegründet, in dem Frauen auf vielfältige Art unterstützt und gefördert werden. Es ist ein Ort der Solidarität und des Miteinanders. Hier erfahren Frauen über ihre Rechte und erwerben Fähigkeiten, die ihnen eine Arbeit und ein eigenes Einkommen ermöglichen. “Resistance through existence” ist eine hier praktizierte Form der Gewaltfreiheit: mit der Ermöglichung der puren Existenz treten die Frauen für die Aufrechterhaltung ihres Lebens und das ihrer Familien ein und für ihr Recht zu Bleiben.

Fadwa selbst ist in diesem Flüchtlingslager geboren, nachdem ihre Eltern 1948 aus Lifta, einem Teil Jerusalems, vertrieben worden waren. Sie und Ihre Tochter sind in der Vergangenheit sowohl Opfer als auch Zeuginnen von Gewalt durch das Militär, von Festnahmen ohne Angabe von Gründen und Inhaftierungen, die sich ohne Anklage und Gerichtsprozess über Jahre hinziehen können. Der älteste Sohn von Fadwa wurde im Alter von 20 Jahren ohne Begründung an einem Checkpoint verhaftet und erst nach 22 Monaten Haft ohne Anklage oder Verfahren freigelassen. Tag und Nacht dringen Soldat:innen unangekündigt in Wohnungen von Familien ein, durchsuchen die Räumlichkeiten, verhaften Menschen. Unter manchen Einwohner:innen des Flüchtlingslagers kommt es zu Radikalisierung und Gewalt. Hohe Arbeitslosigkeit und unzureichende medizinische und soziale Versorgung führen zu weiteren Notständen.
Rawan studiert Recht. Heute sitzt sie mit uns zusammen und übersetzt die Schilderungen ihrer Mutter und eines älteren Mannes aus dem Flüchtlingslager. Die Kinder auf der Straße und weitere Anwohner kommen durch die offenen Türen des Zentrums hinein. Sie haben ganz offensichtlich Vertrauen in den Ort und die Menschen hier. Aufrecht und freundlich nimmt Rawan im Gespräch mit verschiedenen Menschen ihre eigene Position ein. Sie und ihre Mutter reagieren auf die erlebten traumatisierenden Erfahrungen damit, dass sie sich behaupten und für die Rechte ihrer Mitmenschen eintreten. Sie stärken andere durch Bildungsarbeit und Informationen über weitere Hilfsorganisationen. Sie bieten Raum für psychologische, spirituelle und soziale Unterstützung. Fadwa und Rawan ergreifen Initiative und tun das, was sie tun können in dieser schwierigen Situation.
Ein weiteres Beispiel für Resilienz und ausdauernden gewaltfreien Widerstand ist die Beduinengemeinschaft Jabal Al Baba. Sie liegt eingezwängt zwischen völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen und der Mauer, die die Westbank von Jerusalem trennt. Ihre Einwohner:innen sind von Zerstörungsaufforderungen und Räumungsbefehlen in ihrer Existenz bedroht.
In der Mitte des Dorfes wurde ein Park geschaffen, in dem die Bewohner:innen und andere Menschen aus der Umgebung einen ruhigen und erholsamen Ort finden. Auf dem Spielplatz und Fußballfeld des Dorfes gibt es viel Platz für Kinder zum Toben. Mit viel Pflege und kreativen Mitteln wird der Ort schön und lebensfördernd gestaltet und bildet eine Oase inmitten von Bedrohungen und Zukunftsängsten.

Attalah, der Sprecher des Dorfes, erzählt von einer nächtlichen Aktion, in der die Bewohner:innen an einem Hang des Geländes aus Steinen einen riesigen Schriftzug gestaltetet haben: “Wir bleiben” stand dort auf Arabisch. Es war eine freudige Aktion des Zusammenhaltes und der Selbstbehauptung – und eine Nachricht an die benachbarte völkerrechtswidrige Siedlung. Das Werk wurde am nächsten Tag durch das israelische Militär zerstört – ein Triumph für das Dorf war es laut Attalah dennoch.

Er zeigt uns ein Foto des Kunstwerkes aus Steinen und erklärt: “Ich habe nichts gegen jüdische Menschen, ich will nur keine Besatzung. Ich mag Menschen aller Religionen, wir alle können gemeinsam leben. Wir Beduinen brauchen nur unser Land und den Erhalt unserer Lebensart, unser einfaches Leben, unsere Tradition und unsere Kultur.”
In einem unserer Gespräche fragte Attalah mich, ob ich ein künstlerisches Projekt in Jabal Al Baba durchführen könne. So gestalteten die Kinder des Dorfes an einem Vormittag mit mir die Außenwand ihres Kindergartens, der aus einem Container besteht. Auf der Wand ist nun ein großer Olivenbaum zu sehen, der viele Blätter und Früchte trägt. Jedes Kind hat zunächst einen eigenen Baum auf Papier gezeichnet, den es anschließend mit nach Hause nahm. Aus den vielen Entwürfen der jungen Künstler:innen entstand dann der große Baum, an dem jedes der Kinder mitgemalt hat. Es war ein Vormittag voller Freude, Konzentration und Gestaltungskraft. Die Kinder staunten über ihre Möglichkeiten und spürten ihre eigene Wirksamkeit anhand des entstehenden Gemäldes. Der Olivenbaum ist für Palästinenser:innen nicht nur eine Einkommensquelle und damit Lebensgrundlage, sondern ein Sinnbild des Lebens in diesem Lande. Tief verwurzelt steht er da, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Martina, im November 2025
Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.