Bei Flutlicht unterm Sternenhimmel

Nächtliche Präsenz in Masafer Yatta zwischen Solidarität und Wirklichkeit

“Will you sit and watch?” heißt es im Oscar-prämierten Dokumentarfilm “No Other Land”. Der Film handelt von dem einerseits gewaltvollen Alltag und andererseits gewaltlosen Widerstand im Masafer Yatta, einer Gruppe palästinensischer Dörfer in den südlichen Hebronhügeln im besetzten Westjordanland, die von der israelischen Armee als militärisches Sperrgebiet („Firing Zone 918“) deklariert wurden und deren Einwohner:innen seither täglich damit rechnen müssen, dass ihre Dörfer zerstört und sie selbst zur unfreiwilligen Umsiedlung gezwungen werden[1]. Die Gewalt von Siedlern setzt die Gemeinden zusätzlich massiv unter Druck. Das Zitat aus „No Other Land“ bezieht sich auf Schutz- und Solidaritätsaktionen von Aktivist:innen und andere Akteuren, die dieser Realität etwas entgegensetzen wollen, unter anderem in Form sogenannter “Protective Presence”.

Aus Sorge vor Übergriffen radikaler Siedler bitten die Menschen in den South Hebron Hills z.B. auch bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten um Protective Presence; © WCC-EAPPI/R.
Aus Sorge vor Übergriffen radikaler Siedler bitten die Menschen in den South Hebron Hills z.B. auch bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten um Protective Presence; © WCC-EAPPI/R.

Protective Presence – die Idee, durch internationale Sichtbarkeit Gewalt vorzubeugen oder zu vermindern – gehört seit Jahren zu den Strategien zivilgesellschaftlicher Akteure in den South Hebron Hills. Neben solidarischer Begleitung lokaler Gemeinschaften in ihrem Alltag, ist Protective Presence eine der zentralen Säulen des Accompaniments von EAPPI. Aber auch andere internationale und israelische Organisationen und Gruppen setzen darauf, dass die Anwesenheit von Beobachter:innen Siedlerübergriffe reduziert, Militäraktionen dokumentierbar macht und Familien in abgelegenen Gebieten nicht allein lässt – tagsüber und nachts, rund um die Uhr. Gerade in Orten wie Masafer Yatta, wo palästinensische Dörfer zwischen Siedlergewalt, Militärkontrolle und struktureller Isolation leben, kann bereits eine Nacht ohne Übergriffe ein Gewinn sein. Ein Einblick in unruhige Nächte zwischen Schüssen, Hundegebell und Unsicherheiten. Und zwischen Solidarität und Wirklichkeit.

Eine Nacht in Ar-Rakeez

Das kleine Dorf Ar-Rakeez liegt am nord-westlichen Rand der Firing Zone 918, umgeben von völkerrechtswidrigen Siedlungen und Siedlungsaußenposten. Neben Zerstörungen seitens der israelischen Behörden – insgesamt 19 seit Anfang 2024 – bestimmen Übergriffe von Siedlern den Alltag der Menschen hier.

Wir wurden nett empfangen, haben uns unterhalten und den Abend miteinander verbracht. Wir nehmen Teil am Alltag der Leute, und sie empfangen uns wie Gäste. Wir spielten Karten, unterhielten uns und aßen gemeinsam. Trotzdem schwingt im Hinterkopf der Gedanke mit: Dass die Menschen hier darauf angewiesen sind, Fremde in ihre Häuser und Familien aufzunehmen, wenn sie sich unsicher fühlen, wenn sie Schutz brauchen, ist nicht normal. Wir sind auf Einladung der Menschen hier, aber sie haben kaum eine andere Wahl. Für uns fühlt es sich bei aller Herzlichkeit so an, als würden wir in einen sehr intimen und privaten Raum einzudringen. Die Frauen können sich nicht frei bewegen, müssen ihre Köpfe bedecken, wenn (fremde) Männer da sind. Auch haben wir einen familiären Disput miterlebt. Das Leben geht ja schließlich weiter, auch wenn Tag ein, Tag aus Fremde bei dir übernachten.

Wir lagen draußen, auf Matratzen vor der Haustür, beleuchtet von der Straßenbeleuchtung der nahegelegenen Schnellstraße, deren grelles Licht das Grundstück fast lückenlos erhellte. Naja, Straßenbeleuchtung ist eher ein milder Ausdruck. Es sind Flutlichter, die vor einigen Wochen von Siedlern in Richtung des Hofs der Familie errichtet wurden, um es auszuleuchten bzw. auch nachts beobachtbar zu halten. Ein Dorfbewohner sagte dazu sarkastisch: „Dank den Siedlern muss ich nicht selbst mein Grundstück beleuchten und dafür zahlen!“ und lacht.

Von unserem Schlaflager aus blicken wir auf das von den Siedlern installierte Flutlicht; © WCC-EAPPI/R.
Von unserem Schlaflager aus blicken wir auf das von den Siedlern installierte Flutlicht; © WCC-EAPPI/R.

Fünf Schlafplätze. Drei für die Söhne, zwei für uns. Aus der Firing Zone 918 hörte ich Maschinengewehrschüsse, Hunde bellten, und jedes Auto, das sich aus der Ferne näherte, konnte potenziell eine Bedrohung darstellen. Mir wurde gesagt, dass das Militär wohl absichtlich nachts Übungen abhält, um die Gemeinschaften rastlos zu halten. Auch ich kam nicht wirklich zur Ruhe.

Uns und den anderen in den South Hebron Hills engagierten Gruppen ist bewusst, dass der Schutz, den unsere Anwesenheit bieten kann, derzeit sehr begrenzt ist. Die Gewalt extremistischer Siedler hat ein Ausmaß und eine Brutalität erreicht, die so bisher von den Menschen hier nicht erlebt wurde. Und nur noch selten lassen sie sich davon abschrecken, dass internationale oder israelische Begleiter:innen in den palästinensischen Gemeinden mit Stift und Kamera präsent sind, ihre Taten dokumentieren und verbreiten. Denn Konsequenzen müssen sie unter der aktuellen israelischen Regierung nicht fürchten. Manche begleitete Gemeinden sind mittlerweile zudem darauf bedacht, dass Protective Presence nicht von den Siedlern potentiell als Provokation angesehen wird und zu noch mehr Übergriffen führt. Andere wiederum sind davon überzeugt, dass die Siedler so oder so gewalttätig agieren, und es ihnen lieber ist, in diesen Situationen dann nicht allein zu sein.   

Aber ich sah in Ar-Rakeez auch, wie die Söhne eine volle Nacht Schlaf bekommen haben, sich ausruhen konnten, zumindest etwas entspannen und abschalten konnten. Eine willkommene Ablenkung aus pausenloser Acht- und Wachsamkeit.

Sonnenaufgang in Ar-Rakeez; © WCC-EAPPI/R.
Sonnenaufgang in Ar-Rakeez; © WCC-EAPPI/R.

Am nächsten Morgen beobachtete ich den Sonnenaufgang. Keine Vorfälle. Später fragte ich Issa*, den 16jährigen Sohn der Familie, welchen Nutzen unsere Anwesenheit für die Familie hat. „Wenn ihr da seid, kann ich anderes tun“, meinte er. Er könne schlafen oder sich um Alltagspflichten (auch wenn es nur Hausaufgaben sind) kümmern, ohne gleichzeitig auf mögliche Übergriffe achten, filmen oder im Ernstfall die Behörden alarmieren zu müssen. Für eine Nacht wurde unser Wachsein zu seiner Entlastung – eine kurze Unterbrechung eines Lebens, in dem permanente Wachsamkeit zur Normalität geworden ist. Eine Siedlerdrohne flog über unsere Köpfe. Sie beobachten die Menschen, überblicken die Anwesenden, lassen ihnen keine Ruhe.

Solidarisch Räume schaffen für die Bewältigung des Alltags

In Amnir zeigte sich die Zerbrechlichkeit solcher Schutzmechanismen noch deutlicher. Die Familie dort lebt isoliert auf einem Hügel, umgeben von Zäunen, Toren und Kameras. „Wir sperren uns ein, um uns sicherer zu fühlen“, sagte Khaled*, und in diesem Satz lag die ganze Paradoxie ihres Alltags: Die Isolation bedeutet zugleich Schutz und Verwundbarkeit.

Amnir erhält kaum internationale Unterstützung. Unsere Anwesenheit gibt Khaled unter anderem die Möglichkeit, freitags zur Moschee zu gehen, ohne die Sorge, seine kranke Frau und die Enkelin, die bei den Großeltern lebt, allein zu lassen.

Meistens bleibt Khaled lange wach, leuchtet in die Ferne bei jedem Geräusch. Ein, zwei Stunden leichter Schlaf, mehr nicht. Oftmals geht er früh schlafen, während seine Frau Jamila* noch wach ist, damit er nachts ausgeruhter ist, sollte etwas passieren. Bei einer unserer Übernachtungen schlagen wir ihm vor, früher schlafen zu gehen, aber er will nicht: “Wenn ihr ausgeruht seid, bin ich ausgeruht.” Es beruhigt ihn, andere Leute bei sich zu haben – „Wenn ich gute Leute wie Euch sehe, dann bin ich beruhigt.“ Um 1 Uhr ist er schlafen gegangen, um 4:30 Uhr war er wieder wach für das Morgengebet. Er ist froh und ausgeruht. Dreieinhalb Stunden Schlaf hatte er schon lange nicht mehr.

Am nächsten Morgen beschäftigten wir uns viel mit seiner Enkeltochter. Auch so etwas schafft Raum, damit Gemeinschaften ihren Alltag bewältigen können. Khaled kann sich um die Schafe kümmern, kann baden und zur Moschee gehen. Jamila kann sich um den Haushalt kümmern, ohne dass ihre dreijährige Enkelin all ihre Aufmerksamkeit benötigt. Diese wiederum genießt unsere Aufmerksamkeit sehr.

Die Frage, ob Protective Presence angesichts der massiven Siedlergewalt überhaupt noch wirksam ist, begleitet diese Erfahrungen kontinuierlich. Und doch widersprechen die kleinen Momente den Zweifeln. Die Nächte, in denen Menschen schlafen können, weil jemand anders wach bleibt. Die Möglichkeit, alltägliche Handlungen wieder aufzunehmen, ohne dass jede Bewegung von Angst begleitet wird. Die Gespräche am Morgen, die zeigen, wie sehr schon kleine Pausen der Anspannung entlasten. Vielleicht wirkt Protective Presence derzeit nicht in der großen Logik des Konflikts, aber sie wirkt noch in den engen Räumen des Alltags – als situative, fragile Form der Unterstützung.

Nächtliche Präsenz in einer Hirtengemeinde im Jordantal während eines Besuchs bei unserem dortigen Team, auch hier ist die Angst vor Siedlergewalt mittlerweile trauriger Alltag; © WCC-EAPPI/R.
Nächtliche Präsenz in einer Hirtengemeinde im Jordantal während eines Besuchs bei unserem dortigen Team, auch hier ist die Angst vor Siedlergewalt mittlerweile trauriger Alltag; © WCC-EAPPI/R.

Grundsätzliche Veränderung ist dringend notwendig

Während unserer Aktivitäten in Masafer Yatta wird mir immer wieder deutlich: Protective Presence hilft, aber sie hilft nie genug. Sie schafft Erleichterung, aber keine Sicherheit. Sie unterstützt Familien bei der Bewältigung eines strukturell erdrückenden Alltags, ohne dessen Ursachen beeinflussen zu können. Sie bietet Solidarität, aber oft um den Preis eines Eindringens in private Räume und eines ständigen Abwägens zwischen Nutzen und Begrenztheit.

Am Ende bleibt Protective Presence eine Mikrointervention in einem makrostrukturellen Problem. Sie kann Momente der Ruhe schaffen, geteilte Wachsamkeit ermöglichen und die Isolation mildern. Aber sie kann die Realität nicht verändern, die diese Präsenz überhaupt erst notwendig macht. Die Menschen in Masafer Yatta brauchen nicht nächtliche Schlafplätze internationaler und israelischer Begleiter:innen, sondern politische Rechte, die es ihnen erlauben, in Würde und ohne Angst zu schlafen.

*Namen geändert

R., im November 2025

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.nrc.no/feature/2025/masafer-yatta-where-israel-is-trying-to-erase-18-palestinian-communities