Sheikh Saeed Rabaa ist ein 60-jähriger palästinensischer Landwirt, der zusammen mit seiner Familie in dem kleinen Dorf Al-Rakeez in Masafer Yatta lebt. Sein Haus liegt nur wenige Gehminuten von jener Tankstelle entfernt, die Zuschauer:innen des Films No Other Land wiedererkennen dürften. Und obwohl der Dokumentarfilm, der die Rechtsverletzungen der vergangenen Jahre in dieser Gegend ganz im Süden des Westjordanlands dokumentiert, einen Oscar gewonnen hat, stehen die Dorfgemeinden in Masafer Yatta weiterhin unter erheblichem Druck, da Landenteignungen, die Zerstörung von Wohnhäusern und fortgesetzte Siedlergewalt weiter eskalieren.
Sheikh Saeed und seine Familie besitzen seit Generationen das Land, auf dem sie wohnen und das sie bewirtschaften. Dies kann die Familie mit allen nötigen Dokumenten nachweisen. Trotzdem werden Sheikh Saeeds Grundstück und sein Olivenhain regelmäßig von (männlichen) Siedlern der nahegelegenen Siedlung Avigayil ins Visier genommen.

Die Siedlung Avigayil wurde 2001 als Außenposten errichtet, wie alle Siedlungen und Außenposten völkerrechtswidrig. Außenposten sind selbst nach israelischem Recht illegal. Die aktuelle israelische Regierung arbeitet jedoch mit Hochdruck daran, Außenposten rückwirkend zu legalisieren. Der Legalisierungsprozess von Avigayil wurde Anfang 2023 auf den Weg gebracht[1] und im September desselben Jahres abgeschlossen.[2] Mittlerweile haben die Siedler in direkter Nachbarschaft zwei neue Außenposten errichtet. Im September 2025 wurden 278 neue Wohneinheiten für Avigayil in den offiziellen Planungsprozess gegeben[3], in einem Jahr, in dem die israelische Regierung bis dato fast 30.000 neue Wohneinheiten in Siedlungen geplant hat, ein negativer Allzeitrekord.[4] Die Zahlen sind Ausdruck einer Politik der völkerrechtswidrigen Besiedlung und de-facto Annexion, die Hand in Hand geht mit der massiv zunehmenden Siedlergewalt der letzten Jahre.
Der Angriff auf Sheikh Saeed
Der britische Sender Channel 4 hatte bereits mehrere Monate an einem Bericht über die fortschreitende Landnahme durch Siedler in Al-Rakeez gearbeitet, als es zu dem Vorfall kam, der das Leben von Sheikh Saeed und seiner Familie einschneidend veränderte. Die Dokumentation ist nichts für schwache Nerven, aber es ist wichtig, sie sich anzuschauen. Die dokumentierte Siedlergewalt, die Palästinenser:innen täglich erfahren, ist international vielen längst bekannt, bleibt aber bis auf wenige Ausnahmen politisch bisher weitgehend ohne Konsequenzen.
Am Abend des 17. April 2025 betraten drei bewaffnete Siedler das Grundstück von Sheikh Saeed, um dort Eisenpfosten für einen Zaun in den Boden zu setzen, der ihn von seinem Land und seinen Olivenbäumen trennen sollte. Laut Sheikh Saeed gingen er und sein 15-jähriger Sohn Ilyas nach draußen, um die Siedler zur Rede zu stellen. Die Siedler waren mit Maschinengewehren bewaffnet; Sheikh Saeed war unbewaffnet.
Auf den Aufnahmen von Channel 4 ist zu erkennen, dass Sheikh Saeed versuchte, das Kabel des Bohrers herauszuziehen, um die Arbeiten zu stoppen, woraufhin ein Siedler ihn gewaltsam zu Boden stieß und mit seinem Maschinengewehr auf Sheikh Saeed zielte. Ilyas filmte die Szene mit seinem Handy, bis auf den Aufnahmen das Gerät plötzlich zu Boden fällt und ein dumpfer Schlag zu hören ist. Ilyas wurde von einem der Siedler von hinten gepackt, zu Boden gedrückt und in einen Würgegriff genommen.
Aus einer Aufnahme, gefilmt aus einiger Entfernung, und der Kommentierung von Channel 4 wird ersichtlich, dass Sheikh Saeed versuchte, seinem Sohn zu Hilfe zu kommen. Sheikh Saeed erzählte uns, dass er die Siedler anflehte, seinen Sohn loszulassen, da dieser Asthma habe und der Haltegriff ihn töten könne, wenn sie weitermachen. Ein Siedler packte Sheikh Saeeds Arm, verdrehte ihn hinter seinen Rücken, feuerte zwei Schüsse in die Luft und schoss ihm dann ins Bein. Sheikh Saeed fiel schwer verletzt zu Boden. Der Siedler, der schoss, wurde später von israelischen Aktivist:innen als Sicherheitsbeauftragter der Siedlung Avigayil, Benjamin Bodenheimer, identifiziert.[5]
Kurz darauf trafen israelische Soldat:innen ein. Sie schenkten den Siedlern keinerlei Aufmerksamkeit. Stattdessen verhafteten sie Ilyas mit der Behauptung, er habe versucht, die Waffe eines Siedlers zu ergreifen. Ilyas wurde abgeführt und mehrere Tage lang inhaftiert. Sheikh Saeed musste eine Strafe von 10.000 Schekel (mehr als 2.300 Euro) zahlen, andernfalls wären er und sein Sohn ins Gefängnis gekommen.
Diskriminierende Behandlung trotz schwerer Verletzung
Bei einem unserer Besuche erzählte Sheikh Saeed uns, wie es nach dem Übergriff weiterging. Als Gefangener wurde er von israelischen Sicherheitskräften transportiert. Der Krankenwagen sei absichtlich verzögert worden und zunächst in eine Siedlung gefahren, bevor er ins Krankenhaus nach Israel kam. Die Ärzte sagten ihm, dass die Amputation seines Beins hätte verhindert werden können, wenn er schneller medizinische Hilfe erhalten hätte. Zwei bewaffnete Polizisten blieben während seines gesamten Krankenhausaufenthalts ständig an seiner Seite. Außerdem war er durchgehend an den Händen und an seinem zurückbleibenden Bein ans Bett gefesselt. Sheikh Saeed beschrieb die Behandlung als erniedrigend: „Das ist kein Krankenhaus, das ist ein Gefängnis.“

Bei der Verlegung von dem israelischen in ein palästinensisches Krankenhaus, vier Tage nach der Schussverletzung, wurde er in einem Fahrzeug der Grenzpolizei transportiert, das nicht für Krankentransporte geeignet war, und auf nacktes Metall gesetzt. Er habe große Schmerzen gehabt und versuchte, sein Bein mit seinen gefesselten Händen vor den Erschütterungen der holprigen Straße zu schützen. Als er bat, langsamer zu fahren, habe der Fahrer stattdessen beschleunigt. Sheikh Saeeds Familie wollte Fotos und Videos von ihm und dem Fahrzeug machen, ihnen sei jedoch mit einer Verhaftung gedroht worden, falls sie Fotos machten.
Straflosigkeit als Normalzustand
Für jemanden, der in einem funktionierenden Rechtsstaat lebt, ist diese Situation kaum zu glauben. Während der bewaffnete Angreifer nicht belangt wird, wird ein Jugendlicher ohne ersichtlichen Grund festgenommen, und die medizinische Versorgung wird behindert bis hin zur Fixierung des Verletzten im Krankenhausbett. Das Wort „Absurdität“ reicht dafür nicht aus.
Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din enden 94 % der von Palästinenser:innen eingereichten Anzeigen gegen israelische Zivilist:innen ohne Anklage, nur in 3% der Fälle kommt es zu einer Verurteilung.[6] Statt Gerechtigkeit erleben viele Betroffene das Gegenteil: Nicht die Angreifenden, sondern sie selbst, werden beschuldigt, festgenommen, befragt, und eingeschüchtert, während die Täter unbehelligt bleiben.
Der Hebron Council, der die im Süden des Westjordanlands lebenden Siedler vertritt, erklärte, Benjamin Bodenheimer habe ein Standardfestnahmeverfahren durchgeführt, nachdem Sheikh Saeed die Siedlung Avigayil mit einem angeblich bedrohlichen Gegenstand betreten habe, so berichtet die Channel 4 Dokumentation.
Der Angriff auf Sheikh Saeed stellt keinen Einzelfall dar. Er reiht sich ein in ein größeres Muster, das sich seit Jahren dokumentieren lässt – ein Muster aus Gewalt, Straflosigkeit und strukturellem Machtmissbrauch. Gewalt gegen Palästinenser:innen im Westjordanland wird selten strafrechtlich verfolgt, dokumentierte Übergriffe führen kaum zu Konsequenzen. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sie auf sich allein gestellt sind: Sie verlieren Land, Einkommen, Sicherheit, und nicht selten ihre körperliche Unversehrtheit oder sogar ihr Leben, wie im Fall des Familienvaters Awdah Hathaleen, der im nahen Umm al Kheir im vergangenen Juli von einem Siedler erschossen wurde. Auch dieser Siedler ist weiterhin auf freiem Fuß.[7]
Standhaftigkeit als Alltag
Bei einem Community-Event im Dorf At-Tuwani Ende November 2025 wurde Sheikh Saeed gemeinsam mit anderen Palästinenser:innen und auch ein paar internationalen Solidaritätsgruppen für ihr Engagement und ihre Standhaftigkeit geehrt. In seiner Rede sagte Sheikh Saeed, dass für ihn der Umgang mit der Besatzung „wie Wasser trinken ist“ – etwas, das ihm leichtfalle und keine besondere Kraft kostet. Widerstand sei für ihn kein Ausnahmezustand, sondern Alltag.
Während einer unserer Übernachtungen in Al-Rakeez berichtete uns die Familie, dass Benjamin Bodenheimer fast täglich auftauche, um sie einzuschüchtern. Sie haben ihm sogar einen Spitznamen gegeben: „Budi“. Selbst das jüngste Kind der Familie, erst sechs Jahre alt, kennt diesen Namen.
Sheikh Saeed lässt sich nicht beirren. Er wirkt ruhig, entschlossen und unerschütterlich. Den Journalist:innen von Channel 4 sagte er: „Ich werde niemals aufgeben, egal was es kostet. Sie haben mir zwar das Bein amputiert, aber meinen Willen werden sie mir niemals nehmen … kein Siedler dieser Welt könnte mich von meinem Land vertreiben“. Sein Bein hat er auf seinem Land begraben: Ein Symbol dafür, dass selbst ein körperlicher Verlust seine Verwurzelung mit dem Land nicht schwächen kann.
Bei einer weiteren Übernachtung sagt Sheikh Saeed, er habe keine Angst vor den Siedlern; seine einzige Furcht sei die vor Gott. Die Siedler seien es, die Angst haben, stellt er klar.

Am nächsten Morgen schwingt er sich auf seinen Traktor und fängt an, sein Land zu bearbeiten, etwas, das in Masafer Yatta heutzutage zur Seltenheit geworden ist, weil Siedler dies kaum noch zulassen. Dies ist ein weiterer Ausdruck Sheikh Saeeds Standhaftigkeit. „Keine Ungerechtigkeit dauert ewig“, sagt er. „Je größer die Ungerechtigkeit wird, desto näher rückt ihr Ende.“
Miriam, im Dezember 2025
Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Dieser Bericht gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerkes oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.
[1] https://peacenow.org.il/en/the-security-and-political-cabinet-approved-the-establishment-of-9-new-settlements-by-authorizing-10-illegal-outposts-in-the-occupied-territories
[2] https://www.timesofisrael.com/israeli-legalizes-three-west-bank-outposts/
[3] https://peacenow.org.il/en/advancement-of-1276-housing-units-in-the-west-bank
[4] https://peacenow.org.il/en/advancement-of-765-housing-units-in-the-west-bank
[5] https://www.timesofisrael.com/liveblog_entry/doctors-forced-to-amputate-leg-of-palestinian-shot-by-invading-settler-locals-say/
[6] https://www.yesh-din.org/en/data-sheet-law-enforcement-on-israeli-civilians-in-the-west-bank-settler-violence-2005-2024/?utm_source=chatgpt.com
[7] https://www.eappi-netzwerk.de/20-mal-20-meter-standhaftigkeit/