„So Gott will, kann ich eines Tages wieder mit meinen Schafen weiden gehen“

Einen palästinensischen Schäfer im südlichen Westjordanland mit seinen Tieren auf der Weide zu sehen, ist in diesen Tagen für unser EAPPI Team oft ein Moment der Freude. Die Schäfer, ob jung oder alt, immer mit einem kurzen Stab und schattenspendenden Tuch ausgerüstet, sind ein Zeichen für Resilienz und Anpassungsfähigkeit.

Denn seit langem sind Schafe in den Hügeln von Masafer Yatta zum Politikum geworden. Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 sind sie ein Symbol für das Ringen um Landrechte und damit das wirtschaftliche Überleben von Familien.

Die meisten der Familien, die in den Hügeln von Massafer Yatta leben, sind Subsistenzbauern, das heißt sie wirtschaften vor allem für den Eigenbedarf. Sie bauen Oliven, Zitrusfrüchte, Feigen und Granatäpfel an. In den terrassierten Tälern gibt es tiefgründige Böden, die sich auch für den Anbau von Weizen und Gerste eignen. Fast jede Familie in der Region hat Schafe, manchmal sind es nur ein paar, manchmal einige Hundert. Viele sind besonders stolz auf die palästinensischen Rassen, mit ihren langen Ohren und buckligen Nasen. Olivenöl und Schafe werden verkauft, um das zu erwerben, was man nicht mit der eigenen Hände Arbeit herstellen kann. Der Rest der landwirtschaftlichen Produktion wird eingekocht, gesalzen, getrocknet oder eingelegt.

Soweit die Theorie. Die Realitäten der Besatzungssituation jedoch machen die Landwirtschaft für Palästinenser:innen immer schwieriger, besonders für Schäfer:innen, deren Arbeit auf der traditionellen Nutzung von offenem Land als Gemeingut beruht. Israelische Behörden deklarieren immer wieder Land als sogenanntes „Staatsland“[1], dass dann für den Ausbau von Siedlungen oder z.B. landwirtschaftliche Aktivitäten von Siedler:innen zur Verfügung gestellt wird. Palästinenser:innen, etwa den Schäfer:innen hier im südlichen Westjordanland, ist die Nutzung dann untersagt. Gehen die palästinensischen Schäfer:innen hier trotzdem mit ihren Tieren auf die Weide, müssen sie gewalttätige Angriffe von Siedlern oder den Diebstahl ihrer Schafe befürchten. Oktober 2025 war laut UN Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten der Monat mit den meisten Siedlerübergriffen seit Beginn der Aufzeichnung 2006, durchschnittlich 8 Übergriffe pro Tag hat es in diesem Monat gegeben.[2] Einen Einblick in das Ausmaß der täglichen Siedlergewalt bietet z.B. dieser Videozusammenschnitt der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem.  

Die Region südlich der Stadt Yatta ist geprägt von palästinensischen Hirtengemeinden in einem Gebiet vollständiger israelischer Kontrolle (blau), völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen und Siedlungsaußenposten (lila); militärischem Übungsgelände (grau), Checkpoints und der Trennbarriere, die nahe Haribat an Nabi tief in das Westjordanland einschneidet. © UNOCHA-OPT West Bank Access Restrictions July 2025
Die Region südlich der Stadt Yatta ist geprägt von palästinensischen Hirtengemeinden in einem Gebiet vollständiger israelischer Kontrolle (blau), völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen und Siedlungsaußenposten (lila); militärischem Übungsgelände (grau), Checkpoints und der Trennbarriere, die nahe Haribat an Nabi tief in das Westjordanland einschneidet. © UNOCHA-OPT West Bank Access Restrictions July 2025

„Es ist eine Belagerung in der Besatzung“

Das ist die auch die Geschichte von Khaled*, der mit seiner Familie in einem kleinen Gehöft zwischen der palästinensischen Stadt Yatta und der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlung Susyia lebt. Sie erleben fast täglich Übergriffe durch Siedler. Als wir die Familie Anfang September kennenlernen, erzählen sie uns, wie es ihnen in den letzten Monaten ergangen ist. Am 15. Juli 2025 weidete Khaled seine ca. zwei Dutzend Schafe auf dem Land um sein Haus. Siedler, die in Sichtweite seines Hauses wohnen, griffen ihn an und brachen ihm den Arm, mehrere Rippen und schlugen auf seinen Kopf ein. Seitdem traut sich die Familie nur noch für das Nötigste aus dem Haus, etwa für Einkäufe oder Arztbesuche. Familienbesuche oder Gottesdienste sind für sie zu riskant geworden. Später besorgten sie sich Überwachungskameras und bauten einen Stacheldrahtzaun um ihr Grundstück. Sie fühlen sich eingesperrt ein ihrem eigenen Haus. „Es ist eine Belagerung in der Besatzung“ sagt Khaled.

Schwer bewaffnete Siedler in den South Hebron Hills; Foto WCC-EAPPI/Nadja
Schwer bewaffnete Siedler in den South Hebron Hills; Foto WCC-EAPPI/Nadja

Die Siedler kommen auch weiterhin regelmäßig vorbei. Sie zerschneiden den Zaun, reiten vermummt und bewaffnet auf Pferden vorbei und belästigen auch Khaleds Frau Jamila*. Sie erzählt uns: „Die Siedler machen mir unglaublich Angst. Sie schreien mich an, beleidigen mich und sagen mir, dass sie mich erschießen wollen“. Auch wir erleben eine solche Situation während eines unserer Besuche bei der Familie. Ein Siedler reitet an Khaleds Grundstück vorbei. Als er sieht, dass wir anwesend sind, kommt er zurück und spukt uns an. Khaled meint dennoch, es war gut, dass wir da waren und Präsenz gezeigt haben. So bleibe es wenigstens für heute ruhig.

Da Khaled nicht mehr weiden gehen kann, muss er teureres Tierfutter in der Stadt kaufen. Jedes Mal eine Zitterpartie, da Jamila mit ihren Enkelkindern, auf die sie tagsüber aufpasst, alleine zurückbleibt. Aufgrund einer schweren Erkrankung ist der Weg in die Stadt für sie sehr beschwerlich. Zu groß ist zudem die Sorge, dass Siedler die Abwesenheit der Familie nutzen könnten, um Schaden an Haus und Hof anzurichten. EAPPI und andere zivilgesellschaftliche Gruppen sind in dieser Zeit als schützende Präsenz vor Ort. Da die Siedler inzwischen vermehrt auch nachts kommen, schlafen die internationalen und israelischen Begleiter:innen auch bei der Familie und wechseln sich bei der Nachtwache ab. Khaled, der seit dem Angriff im Juli unter Schlafproblemen leidet, meint, wenigstens dann können er und seine Familie etwas ruhiger schlafen. Er steckt den Kopf jedoch nicht in den Sand: „So Gott will, kann ich eines Tages wieder mit meinen Schafen weiden gehen.“

Weidegang im Schutz der Dämmerung

Ähnlich geht es der Familie von Ismael* in Haribat an Nabi. Ismael lebt mit seiner Frau Yasmin* nur etwa zwei Kilometer von der Waffenstillstandlinie von 1949 (Grüne Linie) entfernt, im äußersten Süden des Westjordanlands. Bis zum Checkpoint jedoch, der hier für die Sieder den „Übergang nach Israel“ markiert, sind es nur wenige hundert Meter, denn hier wurde – wie an vielen anderen Orten auch – beim Bau der israelischen Trennbarriere ein Teil des Westjordanlands einschließlich völkerrechtswidriger Siedlungen und palästinensischen Lands abgetrennt (siehe Karte).

Auch in der direkten Umgebung von Haribat an Nabi gibt es völkerrechtswidrige Siedlungen und Außenposten, die theoretisch selbst nach israelischem Recht illegal sind. Doch: Statt das eigene Recht durchzusetzen, unterstützt die israelische Regierung die Siedlungen und Außenposten finanziell und militärisch[3]. Diese Siedler kommen auch hier regelmäßig nachts in den Weiler der Familie und versuchen die Familie einzuschüchtern oder etwa die Schafe zu stehlen. Auch hier leisten EAPPI, internationale und israelische Begleiter:innen schützende Präsenz, sowohl tagsüber als auch nachts. So konnte bis jetzt Schlimmeres verhindert werden.

Ismael und sein Sohn Issa* sind einige der der wenigen Hirten in den Hügeln ganz im Süden des Westjordanlands, die sich noch trauen ihre Schafe zu weiden. Aufgrund von Bedrängung und Übergriffen in der Vergangenheit treiben sie ihre Schafe nur noch früh morgens durch die trockenen Täler von Massafer Yatta. Sie hoffen, dass die Siedler dann noch nicht unterwegs sind, um sie einzuschüchtern.

An diesem Morgen begleiten wir Issa und seine Söhne auf dem Weidegang; © WCC-EAPPI/Marvin
An diesem Morgen begleiten wir Issa und seine Söhne auf dem Weidegang; © WCC-EAPPI/Marvin

Es ist Anfang Oktober, die Nächte sind mittlerweile angenehm kühl. Nachdem wir eine ruhige Nacht bei Ismaels Familie verbracht haben, treiben wir zusammen mit Issa die Schafe aus den Ställen. Weit gehen wir jedoch nicht, zu groß ist die Gefahr, dass Siedler kommen und die Hirten bedrängen, die Tiere auseinandertreiben, sie vielleicht gar verletzten oder mit ihren eigenen Herden vermischen und dann einige von Ismaels Tieren mitnehmen. Er hat das alles schon erlebt. Die Felder um das Haus sind deswegen schon fast abgegrast, während die Hügel auf der anderen Seite des Tals noch viel Futter bieten würden. Doch das ist zu nah an den Außenposten und der Weg nach Hause im Notfall zu weit. Deswegen muss auch Ismael Futter kaufen. 300 bis 400 Euro im Monat zusätzliche Ausgaben, so erzählt er uns, die für die Familie kaum zu stemmen sind.

Als wir uns mit Issa nach zwei ruhigen Stunden auf der Weide zum Frühstück zusammensetzten – es gibt frisches Brot, Olivenöl, Zatar, Joghurt und Kaffee – frage ich ihn, ob wir wirklich eine Hilfe sind. „Alleine Eure Anwesenheit gibt uns das Gefühl, nicht allein zu sein. Wir können wenig gegen die Siedler tun, aber wenn Ihr zuhause unsere Geschichte erzählt, kann wenigstens niemand sagen, wir hätten das alles erfunden.“

Mit den internationalen und israelischen Begleiter:innen teilen die Familien ihre Zuhause und ihre Mahlzeiten; © WCC-EAPPI/Marvin
Mit den internationalen und israelischen Begleiter:innen teilen die Familien ihre Zuhause und ihre Mahlzeiten; © WCC-EAPPI/Marvin

Die Kosten der Besatzungsrealität

Aufgrund der zunehmenden Kosten müssen viele Familien einen Teil ihrer Schafe verkaufen. Das Weideland und die Herden schrumpfen – für viele bleibt nur noch, in die Stadt zu ziehen. Wenigstens gibt es dort keine Siedlergewalt und zumindest die Hoffnung auf Arbeit, auch wenn sich diese Hoffnung nicht für alle erfüllt, zu groß sind auch in den Städten die Probleme angesichts einer Wirtschaft, die durch die andauernde Besatzung kaum eine Möglichkeit zur Entwicklung hat.

Viele der Menschen, die wir in den ländlichen Gemeinden von Massafer Yatta begleiten, glauben, dass die Angriffe von Siedlern und die Repressalien der Besatzungsbehörden wie Hauszerstörungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit Hand in Hand gehen, um die palästinensischen Hirtengemeinden zur Umsiedlung in die Städte zu zwingen, mehr Land zu übernehmen und letztlich die Vision der israelischen Regierung[4] zu erfüllen, das Westjordanland mindestens zum Teil zu annektieren[5]. Als ich Khaleds Sohn frage, warum sie trotz der Gewalt und der schwindenden Verdienstmöglichkeiten bleiben, sagt er: „Wo sollen wir hin? Unser Land aufgeben und Flüchtlinge werden? Nein, weiterzumachen und standhaft zu bleiben, ist auf jeden Fall besser“.

*Namen geändert

Marvin, im Oktober 2025

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://peacenow.org.il/en/state-land-allocation-west-bank-israelis

[2] https://www.ochaopt.org/content/humanitarian-situation-update-337-west-bank

[3] https://peacenow.org.il/en/the-bad-samaritan-land-grabbing-by-settlers-through-grazing

[4] https://www.timesofisrael.com/knesset-votes-71-13-for-non-binding-motion-calling-to-annex-west-bank/

[5] https://peacenow.org.il/en/the-year-of-annexation-and-expulsion-summary-of-settlement-activity-in-2024-2