Der letzte Hoffnungsfunke

“Ihr habt ein Visum und könnt drei Monate hierbleiben. Aber ob ich in drei Monaten noch hier bin, dass weiß ich nicht”, sagt Abu Khamis, der Gemeindevorsteher des Beduinendorfes Khan Al Ahmar.

Zurzeit besucht unser Team diesen Ort mehrmals in der Woche. Er liegt in einem großen Gebiet östlich von Jerusalem („Adumim Block“), das zukünftig völkerrechtswidrig vom Westjordanland abgespalten und dem israelischen Staatsgebiet zugeführt werden soll. Die hiesigen Beduinengemeinden haben in diesem Plan keinen Platz. Khan al Ahmar ist akut davon bedroht, dass der seit 2018[1] gegen das Dorf vorliegende Abrissbefehl nun jederzeit umgesetzt wird: Sämtliche Gebäude sollen zerstört und alle Bewohner:innen vertrieben werden.

Khan al Ahmar: Blick vom Schultor auf den Dorfplatz; © WCC-EAPPI/Monique
Khan al Ahmar: Blick vom Schultor auf den Dorfplatz; © WCC-EAPPI/Monique

Die Solidarität und Gegenwart von Menschen aus anderen Ländern ist der letzte Hoffnungsfunke für das Dorf. Nur mit starkem internationalem Druck, so Abu Khamis, könnte die Umsetzung der nach internationalem Recht völkerrechtswidrigen israelischen Abrisspläne noch verhindert werden. Die Präsenz von internationalen Zeug:innen kann hoffentlich außerdem dazu beitragen, dass Siedler:innen in ihren gewaltsamen Übergriffen gegen die Gemeinschaft gebremst werden. Daher hat Abu Khamis uns gebeten, möglichst oft zu kommen.

Khan Al Ahmar ist eine von 18 Beduinengemeinschaften im Adumim Block, in dem auch das sogenannte E1 Siedlungsprojekt liegt. Dieses Vorhaben gibt es schon seit Jahrzehnten, aufgrund von internationalem Druck wurde es aber lange zurückgehalten. Nun hat die israelische Regierung im August den Bau von 3.400 Siedlungswohneinheiten in E1 genehmigt – ein grober Verstoß gegen das Völkerrecht, der die Annexionsbestrebungen der Regierung ein weiteres Stück voranbringen soll.[2] Finanzminister Smotrich bezeichnete die Entwicklungen in E1 als „letzten Nagel im Sarg eines palästinensischen Staates.“[3]  Die bestehenden völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen sollen zu einem großen Gebiet zusammengeschlossen werden, was den Lebensraum der palästinensischen Bevölkerung täglich weiter einschränkt. Bereits jetzt sind die israelischen Behörden dabei, durch Hauszerstörungen und groß angelegte Baumaßnahmen Tatsachen zu schaffen.[4] Die Beduinengemeinschaften, die im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges vor 77 Jahren aus der Negevwüste flüchten mussten, befürchten bald erneut vertrieben zu werden.

„Greater Jerusalem“ Karte der israelischen Menschenrechtsorganisation Ir Amim
„Greater Jerusalem“ Karte der israelischen Menschenrechtsorganisation Ir Amim, Khan al Ahmar (Han Al-Ahmar) ist in der rechten Bildmitte zu finden

Khan Al Ahmar mit seinen 33 Familien – insgesamt leben hier um die 300 Menschen, die Hälfte davon sind Kinder – ist ein wichtiges Symbol für den friedlichen Widerstand gegen dieses Vorhaben: die Bewohner:innen bleiben, trotz der Drohungen der israelischen Regierung, trotz der Angriffe durch Siedler aus der Umgebung. Die hiesige Schule bildet ein wichtiges Zentrum für 135 Kinder aus Khan Al Ahmar und den fünf umliegenden Beduinengemeinschaften, die hier von 20 Lehrer:innen unterrichtet werden. Sie wurde aus Autoreifen gebaut, die mit Lehm verputzt wurden[5]. Direkt nach dem Bau wurde der Abriss der Schule angeordnet. Doch bis heute steht die Schule – ein Erfolg internationaler Solidarität.

Englischunterricht in Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Monique
Englischunterricht in Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Monique

Bei unserem ersten Besuch des Dorfes, noch in den Schulferien, dürfen wir die Schule besichtigen. Wir sind nicht nur von den vielen Gebäuden und den liebevollen Bemalungen beeindruckt, sondern vor allem von den Kindern: stolz und verbunden mit diesem Ort toben sie durch das Schulgelände, freudig und neugierig nehmen sie Kontakt zu uns auf. In der täglichen Ungewissheit über die Existenzgrundlagen ihrer Familien, in der die Kinder aufwachsen, ist die Schule ein spürbar guter Ort für sie.

An einem Nachmittag treffen sich zwei Frauen des Dorfes mit den Frauen unseres Teams. Es sind Sarah, die Frau von Abu Khamis und die 20jährige Iman, eine Tochter der beiden. Gemeinsam lassen wir uns unter zwei großen alten Bäumen nieder, die davon zeugen, wie lange die Gemeinschaft schon hier lebt. Zwei von Sarahs Enkeln schauen ebenfalls neugierig vorbei.

Sarah erzählt, wie sich das Leben für sie hier verändert hat: Als sie Kind war, besaßen die Familien große Schafherden, die sie in der Umgebung grasen lassen konnten, und die ihr Einkommen sicherten. Heute wird das umliegende Land durch die vielen Siedlungen und Außenposten der Siedler beansprucht und für die Beduinen gibt es keine Weideflächen mehr. Die Zahl der Tiere wurde daher in den letzten 20 Jahren drastisch reduziert: von 6000 Schafen und 46 Kamelen sind heute noch 900 Schafe übrig. Kamele hat die Gemeinschaft nicht mehr. Die Menschen können vom Erlös der verkauften Milch gerade noch das Futter für die Tiere bezahlen. Eine Nachbarin von Sarah und Iman hat deswegen 50 ihrer 100 Tiere verkauft. Das sei besser, als sie von Siedlern gestohlen zu bekommen, was auch immer wieder geschieht.

Blick von Sarahs Garten auf die Siedlung Kfar Adumim; © WCC-EAPPI/Martina
Blick von Sarahs Garten auf die Siedlung Kfar Adumim; © WCC-EAPPI/Martina

Iman berichtet, dass sie, im Gegensatz zu früher, das Dorf kaum mehr verlässt. Zu oft ist sie, allein oder mit ihren Freundinnen, von Siedlern bedroht worden. Die jungen Frauen fühlen sich wie gefangen. „Wir leben in ständiger Bedrohung und Angst”, sagt Iman.

Khan Al Ahmar ist seit Jahren von Zerstörung bedroht. Bereits 2009 lagen entsprechende Anordnungen gegen fast alle Gebäude und die Infrastruktur des Dorfes vor. Bis 2018 konnten die Bewohner:innen in vielen Fällen gerichtlichen Aufschub erzwingen, Zerstörungen im Dorf gab es aber immer wieder. Doch 2018 entschied der Oberste Gerichtshof Israels, dass die Umsiedlung der Gemeinde baldmöglichst vollzogen werden soll, und dann standen die Abrissbagger vor dem Dorf. Nur der Einsatz von internationalen und israelischen Aktivist:innen, die sich Tag und Nacht im Dorf aufhielten, und internationaler Druck gegenüber der israelischen Regierung konnten die Zerstörung im letzten Moment verhindern.

Abu Khamis zeigt uns einen Aktenordner, den er vor einigen Tagen vom Gericht ausgehändigt bekam: Er enthält – auf Hebräisch – Akten zu den Klagen von diversen Siedlern, die Abrissanordnung umzusetzen. Nun befürchtet Abu Khamis, das aktuelle radikale Vorgehen der israelischen Regierung beobachtend, dass die Bagger jederzeit abermals anrücken könnten. Die Behörden drohen zusätzlich damit, dem Dorf das Wasser abzustellen.

Das Bestreben des Staates, die Menschen aus Khan al Ahmar zu vertreiben, werden untermauert durch die israelischen Siedler:innen auf den Hügeln, die das Dorf quasi umzingeln. Immer wieder werden Kinder auf dem Weg zur Schule bedrängt und bedroht und die Erfahrung von Gewalt und Diebstahl gehören zum Alltag: In der vergangenen Woche wurden vier Dorfbewohner von Siedlern geschlagen und zwei Schafe wurden gestohlen. Das Militär unterstützt die Siedler vielfach und nur die Polizei, die oft erst nach Stunden erscheint, kann dem Treiben Einhalt gebieten. Ein neuer Siedlungsaußenposten, nur 50 Meter entfernt auf einem Hügel gelegen, wächst täglich und stellt eine besondere Bedrängnis für die Bewohner:innen des Dorfes dar. Siedler können von diesem Posten aus alles beobachten, was im Dorf geschieht – eine Privatsphäre gibt es für die Bewohner:innen von Khan Al Ahmar nicht mehr. Iman erzählt, dass die Siedler mit ihren Jeeps durch das Dorf rasen und spielende Kinder gefährden. Nachts dringen Siedler in das Dorf ein und beschmieren Zelte und Autos mit Drohungen.

Siedlungsaußenposten nahe Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Martina
Siedlungsaußenposten nahe Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Martina

Während eines unserer Gespräche mit Abu Khamis klingelt sein Telefon: In ein Nachbardorf sind Siedler eingedrungen und haben damit begonnen, ein Haus zu demolieren. Die Familie hat das Haus aus Angst verlassen. Abu Khamis bittet telefonisch einige Aktivist:innen um Hilfe. Als diese erscheinen, verschwinden die randalierenden Siedler, doch die Familie hat Angst, in das Haus zurückzukehren, da die Siedler jederzeit wiederkommen können.

Die Bedrohung ist mit jedem Atemzug präsent. Abu Khamis hat wenig Hoffnung. In den letzten Jahren hat die Bedrängnis permanent zugenommen und die israelische Regierung scheint sich immer weniger für die Stimmen der internationalen Gemeinschaft zu interessieren. Das gewaltsame Vorgehen der Siedler – hier und im gesamten Westjordanland – ist ein Teil der Strategie des Staates zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus den Teilen des Westjordanlands, die in Zukunft auch formell annektiert werden sollen. Abu Khamis berichtet, dass viele Mitglieder der derzeitigen israelischen Regierung selbst Siedler:innen sind oder in Siedlungen aufwuchsen, auch in den völkerrechtswidrigen Siedlungen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Khan al Ahmar.

Die Standhaftigkeit der Bewohner:innen von Khan Al Ahmar und den anderen Beduinengemeinschaften ist beeindruckend und ihre Verbundenheit mit dem Land ist stark. Doch sie sind am Ende ihrer Kräfte und Möglichkeiten. “Wir können nur leben, weil wir auf bessere Zeiten hoffen”, sagt Iman.

Der letzte Hoffnungsfunke ist die Solidarität und der entschiedene Druck der internationalen Gemeinschaft. “Siedler:innen, die hier illegal auf besetztem Gebiet leben, können uneingeschränkt in jedes beliebige westliche Land reisen”, beklagt Abu Khamis. Er moniert, dass andere Länder den Menschenrechtsverletzungen der israelischen Regierung im Westjordanland nicht beherzt entgegentreten und z.B. durch den Handel mit Waren aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen die Siedlungspolitik sogar befördern.

Abu Khamis in Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Martina
Abu Khamis in Khan al Ahmar; © WCC-EAPPI/Martina

Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft das hiesige Geschehen nicht weiterhin unterstützt oder ihm tatenlos zusieht. 2018 hat der internationale Druck erfolgreich zum Erhalt des Dorfes beigetragen. Khan al Ahmar und die vielen anderen Dörfer im Westjordanland, die von Vertreibung bedroht sind, brauchen jetzt abermals entschiedene Handlungen der internationalen Gemeinschaft für Menschlichkeit und Menschenrecht.

Martina, im September 2025

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://www.theguardian.com/world/2018/may/25/israel-court-approves-razing-khan-al-ahmar-bedouin-village

[2] https://www.timesofisrael.com/right-wing-ministers-call-to-annex-west-bank-after-un-votes-for-two-state-solution/

[3] https://www.timesofisrael.com/smotrich-rejoices-as-settlement-plan-that-erases-2-state-delusion-gets-final-greenlight/

[4] https://peacenow.org.il/en/sovereignty-road-cabinet-decision

[5] http://www.ar-co.org/en/progetti/realizzati/gomme/index.php