20 mal 20 Meter Standhaftigkeit – Das Gemeindezentrum von Umm al Kheir

Wir sind in den in den Hügeln von Massafer Yatta ganz im Süden des Westjordanlands unterwegs, eine Region, die früher hauptsächlich von Viehwirtschaft und saisonaler Landwirtschaft gelebt hat. Während die Winterregenfälle die Bergrücken und Täler in üppiges Grün tauchen, sind die Spätsommer trocken, staubig und heiß. Die Olivenernte steht kurz bevor und Bäume mit reifen Feigen und Granatäpfeln verstecken sich wie kleine Schätze zwischen den Zelten und Häusern palästinensischer Weiler.

Unser Weg führt uns nach Umm al Kheir, einem palästinensischen Dorf am Rand der judäischen Wüste. Die Straße dorthin ist gesäumt von israelischen Sperren, gelegentlichen Militärkontrollpunkten, wir sehen bewaffnete Siedler und Flaggen national-religiöser israelischer Gruppen. Umm al Kheir selbst besteht aus mehreren Weilern und einem Ortskern etwas weiter von der Straße entfernt. Das Gemeindezentrum liegt in einem dieser Weiler, dort gibt es einen Spielplatz, eine Bibliothek, ein Büro, einen Basketballplatz, eine Küche und mehrere Bänke sowie einen kleinen Garten. Mit seinen 20 x 20 Metern Fläche ist das Gemeindezentrum ein Ort, der nicht nur die Auswirkungen der Besatzung, sondern auch die Standhaftigkeit der Menschen von Umm al Kheir symbolisiert.

Im Gemeindezentrum von Umm al Kheir: Ein ausrangierter Bus dient als Aufenthaltsraum. © WCC-EAPPI/Marvin
Im Gemeindezentrum von Umm al Kheir: Ein ausrangierter Bus dient als Aufenthaltsraum. © WCC-EAPPI/Marvin

Direkt neben Umm al-Kheir liegt die völkerrechtswidrige israelische Siedlung Karmel, keine 50 Meter vom Gemeindezentrum entfernt. 1981 gegründet[1] ist die Siedlung heute von einem doppelten Stacheldrahtzaun mit Wachtürmen umgeben und begrüßt ihre Besucher mit einem Schild in arabischer Sprache, auf dem steht: „Keine Zukunft für Palästina“. Während Karmel wie eine amerikanische Vorstadt aussieht, mit grünen Gärten, Bäumen, großen zweistöckigen Häusern und Pick-up-Trucks in den Einfahrten, haben alle Häuser in Umm al Kheir einen Abrissbefehl der israelischen Besatzungsbehörden erhalten. Einige der Häuser wurden bereits abgerissen, sodass die Bewohner gezwungen sind, in provisorischen Hütten zu leben, die sie aus Wellblech und Plastikplanen bauen. Dass die Bewohner:innen seit 1948 legale Besitzer des Landes sind und dies auch mit Dokumenten vorweisen können, interessiert die israelischen Behörden offenbar nicht.

„Keine Zukunft für Palästina“ – Plakat an einer Mauer der Siedlung neben dem Ortsschild der Siedlung Karmel; © WCC-EAPPI/Marvin
„Keine Zukunft für Palästina“ – Plakat an einer Mauer der Siedlung neben dem Ortsschild der Siedlung Karmel; © WCC-EAPPI/Marvin

Neben den Hauszerstörungen macht die Gewalt radikaler Siedler den Menschen in Umm al Kheir seit Jahren das Leben schwer. Nachdem sich diese Situation bereits seit dem 7. Oktober 2023 deutlich zugespitzt hatte, eskalierten die Siedler ihre Aktionen in Umm al Kheir seit Anfang 2025 in Vorbereitung der Errichtung eines neuen illegalen Siedlungsaußenpostens direkt neben dem Dorf. Bäume wurden in unmittelbarer Nähe der palästinensischen Gebäude gepflanzt, um den Anspruch auf das Land zu untermauern. Die Bedrängung durch einen der Siedler ging so weit, dass ein israelisches Gericht in einer seltenen Entscheidung ein Kontaktverbot gegen diesen Siedler erließ.[2]

Doch das sollte nicht der dramatische Höhepunkt bleiben. Am 29. Juli 2025 wurde Awdah Hatheleen, Vater von zwei Kindern und bekannt als gewaltfreier Aktivist, u.a. durch seine Unterstützung der Arbeiten zum oscarprämierten Dokumentarfilm „No other Land”, von dem radikalen Siedler Yinon Levi erschossen. Awdah filmte nicht nur den Bulldozer, der versuchte, die Zufahrtsstraßen für den zukünftigen Außenposten zu erweitern, sondern auch die letzten Minuten seines Lebens und seinen eigenen Tod.

Basketballplatz des Gemeindezentrums von Umm al Kheir, dahinter die völkerrechtswidrige Siedlung Karmel. Unten links ist der Steinkreis zu erkennen, der den Todesort von Awdah Hatheleen kennzeichnet; © WCC-EAPPI/Marvin
Basketballplatz des Gemeindezentrums von Umm al Kheir, dahinter die völkerrechtswidrige Siedlung Karmel. Unten links ist der Steinkreis zu erkennen, der den Todesort von Awdah Hatheleen kennzeichnet; © WCC-EAPPI/Marvin

Umm al Kheir ist eine Gemeinde mit einigen der standhaftesten Friedensaktivisten im Westjordanland. In den letzten Jahren hat sich das Gemeindezentrum von einem Spielplatz zu einem Hotspot für den Austausch und gemeinsame Aktionen mit israelischen und internationalen Aktivist:innen entwickelt. Die Familie Hathaleen, zu der Awdah gehörte, lädt alle möglichen Gruppen ein, um die Situation in Umm al Kheir und damit die Auswirkungen der Besatzung selbst mitzuerleben. Breaking the Silence, Center for Jewish Non-Violence, Ta‘ayush und Rabbis for Human Rights gehören zu den häufigsten Besucher:innen hier. Mehrfach haben die israelischen Behörden das Gemeindezentrum bereits zerstört, mehrfach wurde es wieder aufgebaut.

Awdah Hathaleen starb auf dem Gelände des Gemeindezentrums von Umm al Kheir. Seine Blutflecken, umgeben von einem Ring aus Steinen, sind noch immer auf dem Basketballplatz zu sehen. Sein Tod bringt hier wieder alle zusammen: Palästinenser:innen, Israelis, Internationale. Sie wollen Awdah so erinnern: Als friedliebenden, offenen, interessierten und engagierten Menschen.[3]

Für Yinon Levi hatte sein Handeln indes keinerlei Konsequenzen, er ist nach einem kurzen Hausarrest auf freiem Fuß und arbeitet tatkräftig an der Erweiterung des neuen Außenpostens. Dieser war am 27. August, knapp einen Monat nach dem Tod von Awdah Hatheleen, direkt neben dem Gemeindezentrum errichtet worden.[4] Bei unseren Besuchen in Umm al Kheir hören wir, dass Yinon Levy den Außenposten nicht nur regelmäßig besucht, sondern diesen plant und baut. Er ist Besitzer einer Baugerätefirma und sei oft mit Polizei und Armee in dem neu errichteten Außenposten zu sehen. Uns wird zudem berichtet, dass immer häufiger ganze Familien, die offenbar dem national-religiösen Siedlerspektrum angehören, den neu entstandenen Außenposten besichtigen.

Rechts der neue Siedlungsaußenposten, links das Gemeindezentrum von Umm al Kheir; © WCC-EAPPI/Marvin
Rechts der neue Siedlungsaußenposten, links das Gemeindezentrum von Umm al Kheir; © WCC-EAPPI/Marvin

Siedlungsaußenposten, die sowohl nach internationalem als auch nach israelischem Recht illegal sind, gibt es im Westjordanland schon seit Jahrzehnten. Doch seitdem die am weitesten rechts stehende Regierungskoalition der israelischen Geschichte im Amt ist[5], hat diese den Siedlungsbau rasant beschleunigt: PeaceNow zählt seit Januar 2023 die Errichtung von mindestens 151 neuen Außenposten.[6] Es beginnt häufig mit einer Flagge, dann kommen die Siedler regelmäßiger, weiden eventuell ihr Herden oder errichten Picknickplätze, bis sie ein Zelt aufstellen und dort zu schlafen beginnen. Plötzlich haben sie Solaranlagen, Wassertanks und Wohnwagen. Normalerweise sind diese Außenposten einige hundert Meter entfernt – doch immer häufiger entstehen sie direkt neben oder sogar in palästinensischen Gemeinden, so auch in Umm al Kheir.

Das allgegenwärtige Gefühl der Unsicherheit, jederzeit mit Schikanen, einem gewalttätigen Angriff von Siedlern oder einer Hauszerstörung rechnen zu müssen, zermürbt die Menschen. In einem Moment trinkt man noch Tee mit Freunden, im nächsten wird die eigene Existenzgrundlage zerstört. Schlaf ist für nicht wenige in den betroffenen Gemeinden zu einem seltenen Gut geworden, zu groß ist die Angst vor Übergriffen.

Ein bewaffneter Siedler pattrouliert neben dem Gemeindezentrum; © WCC-EAPPI/Marvin
Ein bewaffneter Siedler pattrouliert neben dem Gemeindezentrum; © WCC-EAPPI/Marvin

Dabei spielt auch eine Rolle, dass seit dem 7. Oktober 2023 die Grenzen zwischen Polizei, Armee und Siedlern oft fließend erscheinen. Nach Beginn des Krieges in Gaza und der Bindung großer Teile der Armee dort, wurden für die Bewachung von Siedlungen bereits bestehende sogenannte settlement security squads im Westjordanland verstärkt und mit einer großen Anzahl an Waffen ausgestattet.[7] Zudem rekrutierte die israelische Armee etwa 5.500 Reservist:innen aus Siedlungen in sogenannte regional defence battalions, die im Westjordanland stationiert sind.[8] Die Siedlergewalt war schon vor dem 7. Oktober 2023 merklich angestiegen, erste palästinensische Gemeinden waren aufgrund von Siedlergewalt vertrieben worden.[9] Doch nun wurden extremrechte und gewaltbereite Siedler in die Lage versetzt, als „Sicherheitskräfte“ agieren zu können.In verschiedenen palästinensischen Gemeinden wurde uns berichtet, dass sie Übergriffe von Siedlern erlebt haben, die uniformiert und bewaffnet in ihr Dorf kamen. Auch seien einige der israelischen Polizeibeamt:innen, die hier im Einsatz sind, selbst Bewohner:innen von Siedlungen.

Die Menschen in Umm al Kheir sind überzeugt, dass das koordinierte Zusammenspiel der Maßnahmen von Behörden, Arme und Polizei und die Gewalt der Siedler in den vollständig von Israel kontrollierten C-Gebieten des Westjordanlands nur einen Zweck verfolgt: Die palästinensische Bevölkerung Stück für Stück zu vertreiben. Manchmal sind es nur nächtliche Belästigungen wie laute Musik oder Flutlicht. Dann wieder werden Zufahrtswege mit Erdwällen blockiert oder gesamte Straßen für Palästinenser:innen gesperrt. Bewaffnete Siedler patrouillieren durch die Dörfer oder lassen ihre Schafe in den Olivenhainen grasen, zerstören damit die gesamte Ernte. Immer öfter kommt es zu mutwilligen Zerstörungen von Autos, Fenstern, Zäunen oder Überwachungskameras durch vermummte und bewaffnete jugendliche Siedler.

Diese müssen dabei kaum strafrechtliche Verfolgung fürchten: Laut der israelischen Rechtshilfeorganisation Yesh Din, die palästinensischen Opfer von Siedlergewalt juristisch unterstützt, kommt es nur in 6% der angezeigten Fälle zu einer Anklage, noch seltener zu einer Verurteilung.[10]

Während ich diesen Bericht schreibe, haben sich die Ereignisse in Umm al Kheir überschlagen. Am 14. September 2025 haben Siedler die Wasserleitungen und das Abwassersystem des Weilers zerstört. Unsere Kontakte berichten uns später, dass dieselben Siedler am nächsten Morgen wiederkamen, um den Außenposten an die Wasserversorgung anzuschließen. Einige Bewohner von Umm al Kheir seien schon daran gewesen, die zerstörte Wasserleitung des Dorfes zu reparieren. Armee und Polizei hätten daraufhin alle Männer der Gemeinde für einige Zeit zusammen festgesetzt. Währenddessen konnten die Siedler, unter ihnen erneut auch Yinon Levi, mit Bagger und Bulldozer weiter daran arbeiten, den neuen Außenposten mit dem Wasser zu versorgen.

In derselben Nacht wurden drei neue Caravans zu diesem Außenposten gebracht, wodurch sich dessen Größe verdoppelte und er noch näher an das Gemeindezentrum rückte. Vom Gemeindezentrum aus konnten wir am nächsten Tag das Muster der Vorhänge in den Fenstern der Caravans erkennen.

Eid Hathaleen, Künstler, Aktivist und selbst international bekannt als Symbol für gewaltlosen Widerstand, hat miterlebt, wie sein Cousin erschossen wurde. Doch er kann sehr wohl differenzieren zwischen denen, die die Besatzung mit Gewalt vorantreiben, und denen, die sich auf israelischer Seite für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Ihm ist es wichtig zu betonen, dass Gewalt nie eine Lösung sein kann, weder gegen Palästinenser:innen, noch gegen Israelis wie etwa am 7. Oktober 2023. „Wir müssen das Blutvergießen auf beiden Seiten beenden. Trotz aller Grausamkeiten die uns hier tagtäglich angetan werden, träumen wir nicht von Rache. Das ist ein schreckliches Wort für mich.“ Deshalb trifft er sich auch weiterhin nahezu täglich mit Israelis und spricht mit ihnen über seine Lebensrealität. Er zeigt ihnen, was Besatzung und de-facto Annexion wirklich bedeuten und wie sie sich auf das Leben der Palästinenser:innen auswirken. Doch seine Sorge ist groß: „Ich befürchte, dass die Caravans hier permanent bleiben und dass nach und nach seitens der Siedler Anspruch erhoben wird auf unser Dorfgelände, einschließlich des Gemeindezentrums und des Spielplatzes.“ Auf die Frage, was man gegen die Besatzung tun kann, verweist er vor allem auf den nötigen internationalen wirtschaftlichen Druck. Es müsse endlich Schluss damit sein, dass Siedler:innen international Handel betreiben dürfen, obwohl ein Großteil der Staaten den Vorgaben internationalen Rechts folgen, nach denen alle Siedlungen einer Besatzungsmacht in besetzten Gebieten völkerrechtswidrig sind, auch hier im Westjordanland.

„We will not leave Umm al Khair“ – Botschaft der Standhaftigkeit am Gästehaus im Dorf; © WCC-EAPPI/Marvin
„We will not leave Umm al Khair“ – Botschaft der Standhaftigkeit am Gästehaus im Dorf; © WCC-EAPPI/Marvin

Eid Hatheleen steht damit nicht allein: Als der internationale Gerichtshof im Juli 2024 in seinem Rechtsgutachten zu dem Schluss kam, dass die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete in ihrer Gesamtheit völkerrechtswidrig ist, formulierten die Richter:innen explizit die Verpflichtungen von Drittstaaten, u.a., keine Hilfe oder Unterstützung zu leisten für der Aufrechterhaltung der Situation, die durch die fortwährende völkerrechtswidrige israelische Präsenz in den besetzten Gebieten besteht. Das Gericht benannte in diesem Sinne auch entsprechende Handelsbeziehungen mit israelischen Entitäten, wo diese die besetzten Gebiete betreffen.[11]

Die Menschen in Umm al Kheir und ihre Unterstützer:innen, die sich nahezu täglich im Gemeindezentrum des Dorfes versammeln, warten darauf, dass sich die internationale Gemeinschaft ihrer Verantwortung endlich bewusst wird und auf staatlich unterstützten Siedlungsausbau, Siedlergewalt und Annexionsbestrebungen wirksam Einfluss nimmt, bevor es zu spät ist.

Marvin, im September 2025

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.


[1] https://peacenow.org.il/en/settlements/settlement61-en

[2] https://peacenow.org.il/en/yinon-levi-um-al-kheir-killing

[3] https://www.timesofisrael.com/a-man-of-peace-israeli-and-jewish-peace-activists-mourn-awdah-hathaleen/

[4] https://peacenow.org.il/en/outpost-in-um-al-kheir

[5] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2025A16/ Israels radikal Regierung – Stiftung Wissenschaft und Politik

[6] https://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlements-data/population

[7] https://www.timesofisrael.com/ben-gvir-says-10000-assault-rifles-purchased-for-civilian-security-teams/

[8] https://acleddata.com/report/civilians-or-soldiers-settler-violence-west-bank

[9] https://www.ochaopt.org/content/ras-al-tin-s-remaining-89-residents-leave-amid-increasing-settler-violence

[10] https://www.yesh-din.org/en/data-sheet-law-enforcement-on-israeli-civilians-in-the-west-bank-settler-violence-2005-2024/

[11] https://www.icj-cij.org/sites/default/files/case-related/186/186-20240719-adv-01-00-en.pdf §278