Wir erwarten Zerstörung, Trauer und Wut – und sehen Wiederaufbau, Standhaftigkeit und Lebensmut

Wir kommen in dem wunderschön auf einem Hügel nahe Bethlehem gelegenen Ort Al Walaja an, die Siedlung Har Gilo mit einer Mauer abgetrennt und ständig auf Erweiterung bedacht im Rücken von uns, während vor uns das zum UNESCO Welterbe gehörende Tal um Battir herum liegt, wo traditioneller Terrassenfeldbau gepflegt wird.

Nach unserer Ankunft treffen wir zwei Frauen, die wir bereits von unserem Besuch der Holzwerkstatt des Ortes kennen. Diese Werkstatt ist ein Projekt der selbstorganisierten Frauengruppe von Al Walaja, die wiederum schon seit vielen Jahren vom deutschen Verein Kurve Wustrow unterstützt wird[1]. Die beiden führen uns zu dem Haus, wo morgens früh um 6:30 Uhr die Zerstörung begonnen hatte. Um 5 Uhr, als Armee Jerusalemer Stadtverwaltung ankamen, weckten die Dorfbewohner:innen einander. Doch sie konnten der betroffenen Familie nur aus der Ferne Beistand leisten, weil das Militär Zufahrt und Umgebung kurzfristig zur militärischen Sperrzone erklärt hatte. Das Erdgeschoss des Hauses hat eine Zerstörungsanordnung, über die, wie über 37 weitere im Ort, am 1.11.2022 vor dem Obersten Gerichtshof Israels entschieden werden soll.  Warum so viele Häuser in Al Walaja von Zerstörung bedroht sind kann im Bericht einer meiner Vorgänger:innen detailliert nachgelesen werden.

Für das obere, neu aufgesetzte Stockwerk des Hauses hatte die Familie erst vor kurzem eine Anordnung erhalten, dieses selbst zu zerstören. 15 Tage Zeit, das eigene Zuhause abzureißen. Dem haben sie nicht Folge geleistet. Vater und Mutter, so wird uns berichtet, benötigten den Ausbau für ihre 5 Jungs und 2 Mädchen, alle minderjährig.

Das zerstörte Obergeschoss des Hauses; Foto © WCC-EAPPI

Während wir die Zerstörung dokumentieren, kommt das älteste Mädchen (geschätzt 10 Jahre alt) der Familie mit einer Freundin vorbei. Sie steht noch unter Schock, ist nicht zur Schule gegangen. Sie nimmt gleich die große-Schwester-Rolle ein „Die Kleinen hatten so viel Angst.“ Das (Blech-)Dach, die Mauern, selbst der Wassertank sind zerstört. Vor der Tür liegt ein Haufen Kleidung, der gerettet werden konnte. Die Mutter ist schwanger und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Familie sei bei der Großmutter untergekommen. Es müsse erst sichergestellt sein, dass das untere Geschoss nicht von Einsturz bedroht ist durch die Erschütterungen beim Abriss; auch die Wasserversorgung ist noch nicht wiederhergestellt.

Alle Anwesenden filmen, fotografieren. Diejenigen mit Verbindungen zu lokalen oder internationalen NGOs notieren, was sie sehen, so auch wir. Wie die Einwohner:innen von Al Walaja, die schon über Jahre ein großes Solidaritätsnetz pflegen, hoffen auch wir, dass unsere Berichte und die internationale Aufmerksamkeit dazu führen, dass die Menschen hier im Dorf irgendwann ein friedliches Leben führen können, ohne die ständige Bedrohung durch Hauszerstörungen.

Gegen halb acht, nach getaner Zerstörungsarbeit und Ankunft eines Bulldozers, zog der Trupp weiter zu einem Feld und zwei Terrassen mit 133 Olivenbäumen, darunter viele im Frühjahr gepflanzte junge Triebe und einige über 100 Jahre alte Bäume. Einem alten Mann und einem etwas jüngeren gehört das Land. Der jüngere hat keine Zeit unsere Fragen zu beantworten, zusammen mit ein paar Nachbarn ist er dabei, Oliventriebe wieder einzupflanzen. Die obere Terrasse ist schon voll. Wir sehen ein großes Solarpanel. „Oh, wie konnte das heil bleiben?“ staune ich. „Neu gekauft“, antwortet der jüngere Mann kurz und bittet dann den älteren, mit uns zu sprechen, denn er will so schnell wie möglich die geretteten Pflanzen mit Wurzeln in den Boden bringen. Wegen der Trockenheit ist Sommer keine gute Pflanzzeit, aber sie hoffen auf die zähe Überlebensfähigkeit von Olivenbäumen. Der ältere Herr ist der Bruder des Mannes, der hier in Al Walaja einen der ältesten Olivenbäume der Welt hegt, pflegt und bewacht.[2]

Ein über 100 Jahre alter Olivenbaum, die aufgeschüttete Erde soll verhindern, dass seine Wurzeln austrocknen, ehe er wieder eingepflanzt werden kann; Foto © WCC-EAPPI

Rasir Hussein zeigt uns einen Trieb, dessen Rinde beschädigt ist. Der habe kaum Chancen, anzuwachsen, aber sie lassen nichts unversucht. Hussein lässt sich neben einem Trieb fotografieren, der voller Früchte hängt. Ja, die komplette Ernte sei nun auch mit den Bäumen unter der Erde begraben, die hangabwärts geschoben wurde. In einem Video der Augenzeugen sehen wir, wie der Hydraulikhammer sich neben einem alten Baum in die Erde gräbt, den Baum entwurzelt und zu Fall bringt. Hussein zeigt uns das alte Gehölz, dessen Wurzeln sie erst einmal mit einem Erdhaufen vor dem Austrocknen geschützt haben. Olivenbäume sind beharrlich, er könnte weiterleben. „Welchen Grund hat das israelische Militär für diese Zerstörung angegeben?“ frage ich. „Gar keinen. Es gab keinen Grund. Sie wollen, dass wir das Land ungenutzt liegen lassen, dann können sie es zu Staatsland erklären und sich aneignen.“

Rasir Hussein zeigt an einem Trieb, wie viele Früchte dieses Jahr hätten geerntet werden können – es hätte ein gutes Erntejahr werden können; Foto © WCC-EAPPI

Dann verabschiedet auch er sich, um bei der sofortigen Wieder-Bepflanzung mitzuhelfen. In der Hand eine Flasche Wasser. Sie ist, wie die neu eingepflanzten Olivenbäumchen, ein Symbol dafür, wie wichtig Standhaftigkeit ist. Wie wichtig, dass sie Zerstörtes sofort wieder aufbauen und ihr Leben hier fortsetzen. Denn: Nicht nur hatten die beiden sofort neue Solarpanele angeschafft, sie hatten auch den halb zerstörten Container, der ihre Utensilien enthält, wieder aufgerichtet, den Kühlschrank angeschlossen und das Wasser gekühlt, das sie bei der bevorstehenden Arbeit versorgen wird. Und im Vorbeigehen sagt uns Rasir Hussein noch: „Was haben wir denn für eine andere Wahl? Dieses Land ist wie eines unserer Kinder!“

Helga, im September 2022

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.kurvewustrow.org/aktuelles/sumud-eine-schmiede-des-friedlichen-widerstands

[2] https://www.oikoumene.org/news/in-palestine-god-honored-this-olive-tree

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