Wendepunkte?

Beim Vorbereitungstraining für den Einsatz im Rahmen des EAPPI-Programmes trafen wir Inbal. Die Israelin erzählte uns von der größten Krise in ihrem Leben, die zugleich einen Wendepunkt darstellte: Sie hatte sich als junge Frau zu Beginn ihrer Wehrpflicht in einen gleichaltrigen Soldaten verliebt. Die beiden waren glücklich miteinander. Inbal war bei der Marine eingesetzt, ihr Freund Ariel in einer Bodentruppe in der Westbank. Eines Nachts, erzählt Inbal, erhielt Ariel mit seiner Einheit den Befehl, in einem Dorf in das Haus einer Familie einzudringen, um dieses zu durchsuchen. Ziel solcher Aktionen sei es, mögliche Terroristen aufzuspüren und sie unter Arrest zu stellen. Häufig dienten Einsätze dieser Art – zumal sie von Soldaten ausgeführt werden, die ihren Pflichtwehrdienst absolvieren – lediglich als Übung. Ein Mitglied der NGO „Breaking the silence“[1] berichtet uns später bei einer Informationstour durch die South Hebron Hills, dass die Verantwortlichen für solche Übungseinsätze meistens ganz bewusst Familien auswählen, die als besonders unauffällig und friedlich bekannt sind. Sie möchten ihre Untergebenen keiner Gefahren aussetzen, so erklärt es uns der ehemalige Soldat. Was es aber für eine Familie bedeutet, wenn nachts schwerbewaffnete und vermummte Soldaten gewaltsam in ihr Haus eindringen, Männer, Frauen und Kinder aus ihren Betten holen und stundenlang in einem Raum einsperren, um in dieser Zeit Verhöre durchzuführen, darüber macht sich offensichtlich niemand wirklich Gedanken.

Ariels Einheit drang in dieser Nacht in das Haus einer palästinensischen Familie ein, und einer der Soldaten meinte im Schatten einer Tür eine Gestalt zu erkennen. Der unerfahrene Soldat vermutete fälschlicherweise, dass es sich um eine gefährliche Person handeln könnte und eröffnete das Feuer. In diesem sogenannten „friendly fire“ wurde Ariel von einem Geschoss tödlich verletzt. Inbal weinte, als sie dies erzählt. Dann fuhr sie fort: „Nie zuvor hatte ich mich darum gekümmert, was eigentlich dort vor sich geht in der Westbank. Es hatte mich nicht interessiert, dass dort Menschen leben. Zum ersten Mal habe ich mich gefragt, wer diese Menschen sind und was wir dort eigentlich tun.“ Die Tragödie in ihrem Leben wurde zum Auslöser für Inbal, eine Aktivistin für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu werden. Sie reiste in die Westbank, lernte die Menschen auf der anderen Seite der Trennmauer kennen und engagiert sich seitdem in einer NGO, die Begegnungsmöglichkeiten für palästinensische und israelische Kinder organisiert.

Auf eine ähnliche Tragödie stoße ich hier in den South Hebron Hills in der Nähe des Dorfes Birin: Vor 16 Jahren erschossen dort Soldaten der israelischen Armee versehentlich zwei Siedler aus der nahegelegenen Siedlung Pene Hever, die für einen Sicherheitsdienst arbeiteten[2]. Die beiden Siedler kontrollierten eine der Höhlen, die palästinensischen Hirten traditionell in dieser Region als Behausungen dienen. Vorbereitungen für einen Siedlungsaußenposten wurden dort wohl getroffen[3]. Auch hier gingen die Soldaten davon aus, dass es sich bei den beiden bewaffneten Personen um palästinensische Terroristen handeln müsse, und sie eröffneten das Feuer. Palästinensische Dorfbewohner, die Zeuge der Schießerei waren, wurden festgenommen und zwei Tage lang festgehalten.

Die Siedler errichteten später auf dem Hügel, der den Höhlen am nächsten liegt, eine Gedenkstätte, versehen mit einer israelischen Flagge. Das Land, auf dem das Denkmal steht, gehört Musa Muhamri, der sich gegen diesen Übergriff auf sein Grundstück erfolglos vor Gericht zur Wehr setzte. An jedem Freitagmorgen suchen bei Sonnenaufgang Siedler – eskortiert von bewaffneten Soldaten – das Denkmal auf, um eine Gedenkzeremonie durchzuführen, darunter, so hat es unser Fahrer gehört, auch der Vater eines der Opfer. Sie halten sich dort einige Stunden oder manchmal auch den ganzen Tag auf.

Wöchentlicher Besuch am Gedenkort, rechts die Eskorte der Armee. Foto @ EAPPI
Wöchentlicher Besuch am Gedenkort, rechts die Eskorte der Armee. Foto @ EAPPI

Das Haus der Palästinenserin Um Na´asser, die dort ohne Ehemann mit ihren sieben Kindern lebt, liegt nur 500m entfernt von der Gedenkstätte. Wir besuchen die Familie jeden Freitag bei Sonnenaufgang, um schützende Präsenz zu zeigen, da es immer wieder zu Übergriffen kommt. So sind in der Vergangenheit Solarmodule und Wassertanks der Familie zerstört worden. Von ehemaligen EAs wissen wir, dass wiederholt bewaffnete Siedler zum Haus von Um Na´asser kamen und sie bedroht haben[4]. In den letzten Monaten wurden Pflanzungen sowie Bäume der Familie zerstört. Um Na´asser bringt uns Tee und bittet darum, auch weiterhin wöchentlich zu kommen. Sie meint, die Siedler hätten zur Kenntnis genommen, dass regelmäßig internationale Beobachter präsent sind, die Übergriffe seien deshalb seltener geworden.

Heute sitzen wir wie an jedem Freitagmorgen vor dem Haus von Um Na‘asser, das auf einem Hügel liegt, von dem aus wir einen atemberaubenden Blick auf das vor uns liegende Tal haben. Die Sonne geht auf und ich beobachte die Siedler, die sich an der Gedenkstätte versammeln. Einer von ihnen wird vermutlich der Vater von einem der Opfer sein. Was fühlt er? Wem gibt er die Schuld für seinen Verlust? Das Ganze wiederholt sich für ihn seit nunmehr 16 Jahren. Wie steht er dazu, dass für die Wahrung des Andenkens an seinen Sohn die Rechte von unbeteiligten Palästinenser*innen eingeschränkt werden? Für diese wiederum, so wurde uns berichtet, stellt die Gedenkstätte mit israelischer Fahne auf palästinensischem Grund und Boden eine Provokation dar, die nicht dazu geeignet ist, Frieden zu stiften.

Der Gedenkort nahe Birin; Foto © EAPPI
Der Gedenkort nahe Birin; Foto © EAPPI

Inbal, die israelische Referentin aus unserem Training, hat sich von ihrer Trauer nicht lähmen und auch nicht verbittern lassen. Für sie war es Auslöser und Antrieb, gegen die mentale und reale Mauer zwischen Israelis und Palästinensern anzugehen. Sie hat sich entschieden, Brücken zu bauen. Inbal brachte aber auch ihre Frustration zum Ausdruck. Sie sagte, sie zweifle sehr am Erfolg ihrer Arbeit angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Israel und Palästina.

Dennoch glaube ich, dass gerade diese Graswurzelarbeit, ganz nah bei den Menschen, wichtig ist: Israelis und Palästinenser müssen einander sehen, sich als Menschen wahrnehmen, etwas Positives voneinander und miteinander erfahren. Das kann die Voraussetzung dafür sein, dass ein besonderer Augenblick in der politischen Entwicklung für den Frieden erkannt und genutzt werden kann. Davon bin ich persönlich überzeugt.

Christiane, Februar 2019

Ich nehme für pax christi Deutschland am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.breakingthesilence.org.il

[2] https://www.washingtonpost.com/archive/politics/2003/03/14/israeli-military-mistakenly-kills-outpost-guards/98032190-9591-4b67-b466-6bd1b2a0adc1/?utm_term=.5bf0c06ab0c3 ; http://www.nytimes.com/2003/03/14/world/2-israeli-guards-mistakenly-killed-by-own-troops.html

[3] ebd.

[4] http://www.eappi-netzwerk.de/das-memorial/

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