Explosiver Alltag – zurückgelassene Munition im Westjordanland

Mehrmals in der Woche begleitet unser Team palästinensische Schafhirten in Mak-hul und Khirbet Samra auf ihrem täglichen Weg durch die Berge. Diese Form der „schützenden Präsenz“ ist notwendig, weil die Schäfer sowohl durch das israelische Militär als auch durch Übergriffe von Siedlern beinahe täglich an ihrer Arbeit gehindert werden.

Für mich ist die Begleitung von Burhan in Mak-Hul und den Brüdern Aiman und Fausi in Khirbet Samra ein besonderes Erlebnis. Wir sind in einer beeindruckenden Berglandschaft unterwegs und um uns herum herrscht eine friedliche Stille, die nur ab und zu von den Glocken der Schafe oder den Schnalzlauten der Schafhirten unterbrochen wird. Doch dann sind in unmittelbarer Nähe plötzlich Schüsse zu hören. Wir laufen weiter und können ein Militärtraining ganz in der Nähe beobachten. Die Soldaten führen Schießübungen durch, die so laut sind, dass wir uns anfangs noch heftig erschrecken. Die Schäfer erklären uns, dass die Übungen hier regelmäßig stattfinden. Wir werden uns an die Geräusche also noch gewöhnen müssen. Wir erfahren von den Schäfern auch, dass nach den Militärtrainings immer wieder explosive Materialien im Gelände zurückgelassen werden.

Landminen und „Explosive Kampfmittelrückstände“ stellen laut UN ein großes Risiko für die Bevölkerung des Westjordanlands dar[1]. Während Landminen vor allem, aber nicht ausschließlich, im Jordantal entlang der Grenze zu Jordanien zu finden sind, können andere Arten nicht-explodierter Munition aus militärischen Konflikten oder Militärtrainings überall im Westjordanland vorkommen. Häufig sind Acker- und Weideflächen betroffen, auch in der Nähe von Dörfern[2]. Vor allem Schafhirten und Bauern sind daher einem großen Risiko ausgesetzt, Kampfmittelrückstände in den Feldern oder den Bergen zu finden.

Nicht explodierte Blendgranate mit scharfem Zünder, gefunden in Khirbet Samra; © EAPPI
Nicht explodierte Blendgranate mit scharfem Zünder, gefunden in Khirbet Samra; © EAPPI

Auch wir entdecken bei einem unserer Begleitgänge in den Bergen auf dem kargen, steinigen Boden etwas, das dort nicht hingehört. Zwischen den Grasbüscheln, die begierig von den Schafen und Ziegen abgeerntet werden, liegen die Überreste einer Blendgranate. Blendgranaten verursachen einen lauten Knall und helles Licht, sie dienen der Abschreckung oder sollen Menschen orientierungslos machen. Das israelische Militär setzt Blendgranaten z.B. bei Hausdurchsuchungen oder Militär-übungen im offenen Gelände ein.

Immer wieder finden meine Kolleginnen und ich auch an anderen Tagen Überbleibsel von Militärübungen. Oft sind es Munitionsschachteln, leere Patronenhülsen oder bereits explodierte Blendgranaten. Einmal finden wir aber auch eine Blendgranate, in der noch der Zünder steckt. Wie gefährlich diese nicht explodierten Granaten sein können wurde deutlich, als wir Ende Dezember vom Unfall des fünfzehnjährigen Ahmed (Name geändert) erfahren, der durch die Explosion einer Blendgranate schwere Verletzungen davongetragen hat.

Wir besuchen Ahmed und seinen Vater eine Woche nach dem Unfall in Tammun. Sie erzählen uns, dass die Blendgranate auf der Straße in der Nähe ihres Wohnortes zurückgelassen wurde. Obwohl sich Tammun im sogenannten A- Gebiet befindet, welches offiziell unter palästinensischer Kontrolle steht, haben israelische Soldaten eine Woche zuvor bei einer nächtlichen Personensuche Blendgranaten in der Stadt verschossen.

Ahmed mit seinem Vater nach seinem Unfall; © EAPPI
Ahmed mit seinem Vater nach seinem Unfall; © EAPPI

Einige Kinder haben am nächsten Tag mit den vermeintlich leeren Hülsen gespielt, erzählt uns Ahmeds Vater. Ahmed habe das mitbekommen und einem Kind einen der Gegenstände weggenommen. Dabei sei die Blendgranate in seiner Hand explodiert und er hat den Daumen und die Fingerkuppen seiner linken Hand verloren. Ahmed wirkt sehr gefasst, als sein Vater uns von dem Unfall berichtet. Er erzählt uns aber auch, dass er immer noch Schmerzen hat.

Ahmed ist kein Einzelfall. In den letzten Wochen haben wir von mehreren Familien gehört, dass Angehörige durch Kontakt mit Minen oder nicht explodierter Munition verletzt wurden oder sogar ums Leben gekommen sind.

Die Entfernung von Landminen erfolgt unter anderem durch die britische Organisation HALO Trust. Obwohl 2012 zum Ziel der Minenräumung das Palestine Mine Action Center (PMAC) gegründet wurde, hat die Institution laut dem Forschungsprojekt „Mine Action Review“ bisher keine Genehmigung der israelischen Behörden zur Räumung von Minen erhalten[3]. Und so arbeitet HALO Trust in Absprache mit PMAC und der Israel National Mine Action Authority (INMAA) in den C-Gebieten der Westbank. Von Beginn der Arbeiten 2014 bis 2018 konnte HALO Trust im Westjordanland fünf Minenfelder räumen[4]. Ende 2018 konnte HALO Trust so auch die Entfernung der Landminen an der historischen Taufstelle Jesu vermelden[5].

Nach unserem Besuch bei Ahmed und seinem Vater treffen wir uns mit Mehdi, der für HALO Trust arbeitet. Mehdi erzählt uns, dass viele der Minengebiete oft nicht mehr als solche erkennbar sind, weil die Zäune, die sie ursprünglich umgaben, durch die Witterungsbedingungen oder Überschwemmungen mit der Zeit verschwunden sind. Diese nicht gekennzeichneten Minengebiete stellen eine besondere Gefahr dar. HALO Trust hat laut Mehdi bislang 90 Minenfelder identifiziert. 13 stammen noch aus der Zeit der jordanischen Verwaltung zwischen 1948 und 1967, während die restlichen 77 Minenfelder nach 1967 durch das israelische Militär entlang des Jordans gelegt wurden[6]. Alle Minenfelder befinden sich unter der Kontrolle der israelischen Armee, deren Einverständnis zu Räumungen eingeholt werden muss. Laut Mehdi sind im Jordantal allein im letzten Jahr drei Menschen durch explodierende Landminen ums Leben gekommen.

Rauchgranate, gefunden nahe Jiftlik; © EAPPI
Rauchgranate, gefunden nahe Jiftlik; © EAPPI

HALO Trust kümmere sich auch um die Beseitigung von Sprengkörpern aus den Militäreinsätzen der israelischen Armee. Insgesamt habe die Organisation in den letzten fünf Jahren etwa 2000 Stück Munition ausfindig gemacht, die nach den Militäreinsätzen liegen gelassen wurden, sagt uns Mehdi. Hinzu kämen kleinere Sprengkörper wie Blendgranaten, die in diesen Zahlen nicht miterfasst sind, so Mehdi. Wenn die Organisation über Funde in Kenntnis gesetzt wird, informiert sie auch die israelischen Behörden, die manchmal selbst Räumungen vornehmen.

Neben der Beseitigung von Minen und anderer scharfer Munition betreibt HALO Trust im Westjordanland auch ein Aufklärungsprogramm, mit dem Personen im richtigen Umgang mit Kampfmittelrückständen geschult werden. Die Organisation beziehe ihre finanziellen Mittel bislang zu einem Großteil aus der EU und den USA, so Mehdi. Entsprechend eines Beschlusses der US-Regierung sollen für Projekte in den palästinensischen Gebieten jedoch keine staatlichen Gelder mehr zur Verfügung gestellt werden. Ob HALO Trust ihre Arbeit auch in Zukunft fortführen kann ist daher ungewiss, meint Mehdi zum Abschied besorgt.

Melanie, im Januar 2019

 

Ich habe für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.un.org/unispal/document/west-bank-gaza-communities-impacted-by-land-mines-un-mine-action-service-report/

[2] ebenda

[3] Mine Action Review – Clearing the Mines 2018 Report S.171

[4] Ebenda S. 172

[5] https://www.youtube.com/watch?v=PI9OagOi7V0

[6] http://www.mineactionreview.org/assets/downloads/Palestine-Clearing-the-Mines-2018.pdf

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