Einsatz für den Frieden

Begegnungen mit dem Parents Circle – Families Forum und Breaking the Silence

Im Rahmen meines Einsatzes erlebte ich bei unseren Aktivitäten bisher nahezu täglich israelische Siedler und Soldaten oder erhalte brandaktuelle Meldungen im Zusammenhang mit deren Anwesenheit in der Region Bethlehem. In ausnahmslos allen Fällen waren es bedrückende, wenn nicht gar bedrohliche Informationen und Erlebnisse. Wie wichtig ist es da, auch einer „anderen Seite“ der israelischen Gesellschaft zu begegnen: Menschen ohne Uniform, Menschen mit einer kritischen Einstellung zu Konflikt und Besatzung, Friedensaktivist:innen. Von zwei solcher Begegnungen möchte ich berichten.

Während unseres Zwischenseminars steht Ben Kfir aus Ashkelon vor uns, und ich spüre ein innerliches Aufatmen und eine wachsende Faszination, je länger ich seinem Vortrag folge. Ben ist Mitglied des Parents Circle – Families Forum (PCFF), einer gemeinnützigen israelisch-palästinensischen Organisation von über 600 Familien, die im Konflikt ein oder mehrere Familienmitglieder verloren haben. Die Organisation steht für die feste Überzeugung, dass Versöhnung zwischen den Völkern unabdingbare Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Israel und Palästina ist. Im Rahmen ihrer Versöhnungsarbeit veranstalten Mitglieder des PCFF u. a. nationale und internationale Treffen, Sommer-Friedenslager für Jugendliche, besuchen Dörfer, die von Siedlerübergriffen betroffen sind und haben eine Frauengruppe gegründet. Außerdem gehört die Organisation zu den Co-Koordinatoren des jährlich stattfindenden israelisch-palästinensischen Gedenktages für die Opfer beider Seiten[1]. Die wohl wichtigsten und ältesten Aktivitäten der Gruppe aber sind die der sogenannten „dialogue meetings“: Zwei Mitglieder des Parents Circles, Israeli:n und Palästinenser:in, treffen Jugendliche oder Erwachsene, erzählen ihre persönlichen Geschichten des Verlusts und erklären, wie und warum sie sich – gemeinsam – für Versöhnung einsetzen.

Screenshot der sehr empfehlenswerten Parents Circle Webseite https://www.theparentscircle.org/en/pcff-home-page-en/

Ben erzählt zunächst von seiner Tochter Yael, die Offizierin in einem Nachrichtencorps war und 2003 im Alter von 23 Jahren bei einem Anschlag der Hamas auf den Stützpunkt Gideonim in der Nähe von Rishon LeZion ums Leben kam. Nach Yaels Tod habe er den Lebensmut verloren, sich in sein Haus zurückgezogen und weder die Tür geöffnet noch auf Anrufe reagiert, sogar an Selbstmord gedacht. Nachdem ihm seine ältere Tochter vermittelt habe, wie sehr auch sie unter der Situation leide, sei er in einem langwierigen Prozess bereit gewesen, sich der Realität zu stellen. Irgendwann fand er sich in einem Raum im Friedensdorf Neve Shalom / Wahat al-Salam wieder, erfuhr die Geschichten von Leidensgenoss:innen auf beiden Seiten und war ganz allmählich bereit, sich zu öffnen.

Inzwischen gehört er seit Jahren zum Kreis jener Mitglieder, die auch auf internationalem Parkett über die Arbeit des PCFF berichten. Seit ihrer Gründung 1995 ist die Organisation stetig gewachsen, unterhält mittlerweile Büros in Jerusalem und Beit Jala. Den Schilderungen von Ben, bei denen er im Folgenden den Fokus auf die Jugendarbeit des PCFF legt, folge ich gebannt und habe den Eindruck, dass es sich dabei um eine echte Erfolgs­geschichte handelt.

Da an jenem Nachmittag Bens Ko-Referentin coronabedingt nicht anwesend sein konnte, nehmen wir EAs aus Bethlehem Kontakt mit dem Büro in Beit Jala auf und treffen uns Ende Dezember mit Osama Abu-Ayash, Ko-Direktor des PCFF. Auch von ihm erfahren wir eine tragische Familiengeschichte. Osama hat durch die Besatzung seinen Großvater, seinen Vater und zwei Schwager verloren. Zunächst stand er, wie er sagte, der Organisation kritisch gegenüber, weil nach seinem Empfinden Begegnung und Gespräch zwischen Israelis und Palästinenser:innen nicht ausreichten, um die Lage zu verbessern. Erst als er israelische Stimmen gehört habe, dass ein Ende der Besatzung Ziel und Bedingung für Frieden und Versöhnung sein müsse, sei er dem PCFF beigetreten. Er berichtet von Erfolgen wie dem Project Narratives[2]übersetzt die Erzählung, mit bislang etwa 1.300 Teilnehmer:innen. Bei diesem Projekt soll keines der beiden Narrative – israelisches oder palästinensisches – als das „richtige“ hervorgehoben werden. Vielmehr möchte es die Teilnehmenden mitnehmen auf eine Reise durch persönliche und nationale Narrative, mit dem Ziel, konstruktive Gespräche, Respekt und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Für Osama ist es außerdem besonders wichtig, dass die palästinensischen Mitglieder des Parents Circle den israelischen Mitgliedern aus erster Hand von der Situation unter Besatzung berichten können.

Aufklärung und Bewusstseinsbildung hat sich auch die israelische Organisation Breaking the Silence (hebräisch Schovrim Schtika) auf die Fahnen geschrieben. Breaking the Silence ist eine Organisation ehemaliger Soldat:innen, die ab dem Beginn der Zweiten Intifada (2000) beim israelischen Militär gedient haben und eine innere Verpflichtung spüren, die israelische Öffentlichkeit über die Realität der Besatzung aufzuklären. „Unser Bestreben ist, eine öffentliche Debatte darüber zu entfachen, welcher Preis dafür gezahlt wird, dass junge Soldat:innen tagtäglich Kontrolle über eine ganze Gesellschaft übernehmen müssen. Unser Ziel ist es, die Besatzung zu beenden“.[3] Schon mehrere Versuche habe ich unternommen, mich zu einer der geführten Touren von Breaking the Silence nach Hebron oder in die South Hebron Hills anzumelden. Die Touren sind so gefragt, dass sie meist kurz nach Ausschreibung ausgebucht sind.

Benzy erklärt anhand einer Karte die Situation in der Stadt Hebron; © WCC-EAPPI/Dorothee

Drei Tage vor Jahresende ist es soweit, und ich fahre zusammen mit 34 Interessierten, davon sechs EAs, in einem Bus nach Hebron. Geführt wird die Tour von dem gebürtigen New Yorker Benzy und seinem Mitstreiter Gai. Benzy kam als Orthodoxer zum Thorastudium nach Israel und verpflichtete sich freiwillig zum Dienst bei der israelischen Armee in der Annahme und dem Wunsch, sein Land gegenüber Gefährdung vor allem der Außengrenzen zu verteidigen. Dies jedoch habe entgegen seiner Erwartungen während seiner Militärzeit gar keine Rolle gespielt. Es habe einige Vorfälle gegeben, die ihn so aufrüttelten, dass er zum Friedensaktivisten wurde. Er schildert uns drei, vier dieser Begebenheiten und kommt dann auf die Geschichte Hebrons und die aktuelle Situation in der Stadt zu sprechen. Wir Teilnehmer:innen lauschen gebannt.

Nach etwa einer Stunde Fahrt erreichen wir Kiryat Arba, eine der ersten israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Gegründet 1972 leben heute hier etwa 7.500 Menschen. Auch hier gibt es ausführliche Erklärungen von Benzy, bevor wir zum Grab von Baruch Goldstein gehen. 1994 tötete Goldstein am Grab der Patriarchen in Hebron 29 muslimische Gläubige und verletzte etwa 150 weitere, bevor er selber von Überlebenden des Massakers erschlagen wurde. Von einigen radikalen Siedlern wird er hochverehrt, erzählt uns Benzy. Und weiter führt er aus, dass Goldstein Sympathisant des radikalen orthodoxen Rabbiners und Gründers der „Kach-Bewegung“, Meir Kahane, war, zu dessen Anhängerschaft auch der Mörder Yitzhak Rabins, Jigal Amir, gehörte.

Wir fahren weiter nach Hebron. In dieser Stadt, in der etwa 200.000 Palästinenser:innen und 800 israelische Siedler:innen leben, sind 600 Soldat:innen stationiert. Über Jahrhunderte hatten Muslime, Juden und Christen hier friedlich miteinander gelebt. Im Stadtzentrum liegt das Grab der Patriarchen, hier sollen Abraham und Sara, Isaak und Rebekka sowie Jakob und Lea begraben liegen. Zu Zeiten des Britischen Mandats kam es immer wieder zu Spannungen und Gewalt zwischen arabischen und jüdischen Gruppen und 1929 zum Massaker an 67 jüdischen Bürger:innen der Stadt. Später verließen alle jüdischen Einwohner:innen Hebron.

Nach der Besetzung kamen Gruppen von israelischen Siedler:innen nach Hebron. Heute ist die Stadt ein Mikrokosmos der Besatzungssituation, seit 1997 geteilt in die Zonen H1 unter palästinensischer Kontrolle und H2 unter israelischer Kontrolle. Die Siedler:innen leben in H2, für die hier lebenden Palästinenser:innen bedeutet dies zahlreiche Checkpoints, ständige Militärpräsenz, Bereiche, die sie überhaupt nicht oder nur zu Fuß passieren können, und ständige, zum Teil auch gewalttätige Auseinandersetzungen.

Kaum haben wir den Bus verlassen, kommen Siedler auf uns zu, machen Bilder von uns und schreien auf uns ein. Einer von ihnen übertönt mit einem Megaphon alle Erklärungen Benzys. Soldaten sind ebenfalls präsent, unternehmen aber so gut wie nichts. Die Siedler folgen uns wohin wir auch gehen, rufen „shame, shame“, Schande – Schande, beschimpfen uns als Antisemiten und geben weitere Provokationen von sich, die ich so gut es geht zu überhören versuche. Schließlich kommt die Polizei und spricht mit den Siedlern. Gai hat sie gerufen; die Ursache ihres Eingreifens liegt, wie ich später erfahre, nicht an den Behinderungen unserer Tour, sondern an der Tatsache, dass sie Benzy aufgefordert haben, seine Kippa abzunehmen, da er angeblich „eine Schande für das jüdische Volk“ sei.

Der Bereich des früheren arabischen Markts von Hebron gleicht heute einer Geisterstadt; © WCC-EAPPI/Dorothee

Wir befinden uns in Zone H2 im östlichen Teil der Stadt, der das alte jüdische Viertel mit dem Grab der Patriarchen umfasst. Wir gehen durch den ehemals belebten Suq, den alten arabischen Markt, der jetzt eine Geisterstadt ist. Benzy erzählt uns, dass die dort liegenden etwa 1.500 palästinensischen Geschäfte während der Zweiten Intifada von der Armee geschlossen wurden oder aufgegeben werden mussten. Auf unserem Weg sehen wir ein Werbeschild für neue Wohn- und Geschäftsanlagen, geplante neue Siedlungsbauten in diesem Teil der Stadt.

Soldaten wie Siedler folgen uns, letztere ohne weiteren Einsatz des Megaphons. Einige Soldaten nehmen von den Siedlern Fruchtsaft, Eis und Süßigkeiten an. Benzy führt uns über einen schmalen Pfad zu einem umzäunten Haus, in dem uns der Aktivist Issa Amro von der palästinensischen Menschenrechtsgruppe Youth Against Settlements empfängt und von seinem Alltag und dem Leiden der Menschen in Hebron unter der Besatzungssituation berichtet. Issa ist ein international anerkannter Menschenrechtsverteidiger. Für manche israelische Teilnehmende der Breaking the Silence-Touren ist es vielleicht das erste Mal, dass sie auf diese Art und Weise mit einem Palästinenser zusammenkommen: sich auf Augenhöhe begegnen, zuhören, miteinander sprechen. Ohne Zweifel sind diese persönlichen Begegnungen ein wichtiger Teil der Touren.

Als wir den Rückweg zum Bus antreten, sind wir bewegt und betroffen. Auf der Rückfahrt wiederholt Benzy noch einmal mit Nachdruck, wie wichtig es sei, die Öffentlichkeit aufzurütteln und über die Realität in den besetzten Gebieten aufzuklären. In der Beendigung der Besatzung sieht er, und, wie er meint, etliche seiner Landsleute, den einzigen Weg für die Zukunft nicht nur der Palästinenser:innen, sondern auch der Israelis.

Gut, dass es Menschen wie Benzy, Gai, Ben und Osama gibt, denke ich. Sie sind Ansporn und Ermutigung für alle, die sich bemühen, in dem verfahrenen und manchmal ausweglos erscheinenden Konflikt ein Zeichen der Hoffnung und Veränderung zu setzen.

Dorothee, im Januar 2023

Ich nehme für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.theparentscircle.org/en/pcff-activities_eng/memorial-ceremony_eng/

[2] https://www.theparentscircle.org/en/pcff-activities_eng/narrative-pne_eng/

[3] freie Übersetzung nach www.breakingthesilence.org.il

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner