Die vergessenen Bewohner von Kifl Haris

Das Grab von Nun in Kifl Haris, ©EAPPI
Das Grab von Nun in Kifl Haris, ©EAPPI

Kifl Haris ist ein Ort mit ca. 3.200 Einwohnern. Die jüdische Überlieferung bringt ihn in Verbindung mit Timnath-heres (auch Timnath-serah), in der Bibel als der Ort genannt, an dem Josua begraben wurde[1], ebenso wie dessen Vater Nun und Weggefährte Caleb. Die Geschichte des heutigen Dorfes Kifl Haris lässt sich etwa 1.000 Jahre zurückverfolgen. In ihm befinden sich drei historische Grabmale, von denen die Einheimischen sagen, dass dort die drei islamischen Propheten „Thu al Kifl“, „Thu an Nun“ und „Yosha“ begraben liegen. Sowohl für die jüdische als auch für die islamische Tradition ist dieser Ort also von zentraler Bedeutung. Dennoch, oder teilweise gerade deswegen, ist der Ort Kifl Haris großen Problemen ausgesetzt.

Wir treffen uns mit dem Bürgermeister der Gemeinde, Abdel Rahim. Er berichtet uns, dass die Grabmale etwa 700 Jahre alt sind und lokale Herrscher und Beamte aus der Zeit Saladins dort begraben sind. Eigentlich ein idealer Touristenort möchte man meinen. Die Realität aber sieht anders aus. Der Ort liegt in unmittelbarer Nachbarschaft der jüdischen Siedlung Ariel. 1978 gegründet leben mittlerweile etwa 20.000 Siedler in dieser Kleinstadt, die etwa 20 Kilometer entfernt von der Grenze zu Israel (Grüne Linie) mitten in der nördlichen Westbank liegt; die örtliche Universität zählt zusätzlich über 15.000 Student*innen. Kifl Haris hat durch die Entwicklung dieser Stadt sowie einer angrenzenden Industriezone schon viel Land verloren. Hinzu kommt die Konfiszierung für den Bau der Trennbarriere, welche die Siedlung Ariel bereits komplett umschließt und nach Fertigstellung etwa die Hälfte der Dorffläche von Kifl Haris abgetrennt haben wird. Die Verbindung nach Salfit, dem palästinensischen Verwaltungssitz der Region, ist durch die Siedlung Ariel blockiert, wodurch die Bewohner*innen von Kifl Haris große Umwege und das Passieren von Checkpoints in Kauf nehmen müssen.

Beschädigtes muslimisches Grab am Eingang zu Nuns Grabmal; ©EAPPI
Beschädigtes muslimisches Grab am Eingang zu Nuns Grabmal; ©EAPPI

Das größte Problem für Kifl Haris ist jedoch ein anderes: Auch die Anhänger der israelischen Siedlerbewegung beten hier regelmäßig am Grab Josuas. Ihm kommt eine spezielle Bedeutung zu, da er es war, der das Volk Israel ins Land Kanaan geführt und dieses erobert hatte. Bürgermeister Abdel Rahim erklärt uns, wie diese Besuche ablaufen: „Die Siedler organisieren Bustouren aus dem ganzen Land, und es kommen tausende Menschen in den kleinen Ort, um an den Gräbern zu beten, zu tanzen und zu singen. Diese Veranstaltungen dauern die ganze Nacht bis in die frühen Morgenstunden. Sie bauen dafür regelrechte Bühnen mit großen Lautsprecheranlagen auf. Alle Menschen im Dorf finden deswegen keine Nachtruhe. Die israelischen Soldaten kommen schon Stunden vorher in den Ort und riegeln den zentralen Platz, an dem diese Feiern stattfinden, weiträumig ab. De facto wird eine Ausgangssperre verhängt, denn niemand darf sein Haus verlassen, alle Geschäfte werden geschlossen und die Zugangsstraßen zum Ort werden gesperrt, so dass niemand von den Einheimischen mehr hinaus oder hinein kann. In der Vergangenheit ist es schon vorgekommen, dass Hochschwangere in ihren Wehen stundenlang im Auto warten mussten, bis sie endlich ins Krankenhaus gebracht werden konnten. Bis zum Jahr 2016 gab es etwa 6 – 7 solcher sogenannten ‚koordinierten’ Feiern.“

Das Wort „koordiniert“ ist aber eigentlich ein Euphemismus, denn es bedeutet nur, dass die Einwohner 24 – 48 Stunden vor einem solchen Ereignis von den israelischen Behörden davon in Kenntnis gesetzt werden, dass es geschehen wird.

Abdel Rahim fährt fort: “Seit 2017 beobachten wir aber eine deutliche Zunahme dieser koordinierten Feiern. Es fanden in 2017 24 solcher Betfeste statt, zwar mit weniger Teilnehmern, nur jeweils mehrere hundert bis tausend pro Veranstaltung, aber dennoch mit den gleichen Auswirkungen.“ Schlimmer aber, weil gefährlicher, sind laut Abdel Rahim die sogenannten „nicht koordinierten“ Besuche. „Unter der Woche 3 – 4-mal kommen kleine Gruppen von Siedlern in den Ort, etwa 5 – 15 Personen, um – wie sie sagen – zu beten. Da sie nicht von der israelischen Armee begleitet werden, verhalten sie sich aggressiver und beschädigen parkende Autos, werfen mit Steinen Fensterscheiben ein und knicken selbst frisch gepflanzte Bäume am Straßenrand ein. Es kommt dann auch oft zu Zusammenstößen mit der Dorfjugend, und das Militär rückt dann doch an, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen.“

Auf unsere Frage, ob er als Bürgermeister bzw. die Gemeindeverwaltung selbst nicht bei den israelischen Behörden intervenieren kann, um diese Art von Feiern zu unterbinden oder so umzugestalten, dass sie für alle Beteiligten erträglich werden, schüttelt er resigniert den Kopf. In der Vergangenheit haben das EAPPI-Programm und auch andere internationale Gruppen versucht, die Situation durch sichtbare Anwesenheit zu entschärfen, aber wohl leider ohne erkennbaren Erfolg für die Dorfbewohner. „Die Anwesenheit von Euch ‚Internationals‘ hat auch nichts gebracht“, so Abdel Rahim. „Seit die Siedlerbewegung in der Netanyahu-Regierung mit prominenten Ministerposten vertreten ist, wird die Situation zunehmend unerträglicher.“ Abdel Rahim hofft jedoch, dass unser Wissen um die Situation und unsere Berichte etwas bewirken können.

Ich stelle mir vor, wie diese Grabstellen – in einer anderen Realität, ohne die Besatzung – zu einer touristischen Attraktion entwickelt werden könnten, an der jüdische und muslimische Gläubige friedlich beten könnten, genauso wie christliche Gläubige in Bethlehem am Geburtsort Jesu beten können. Die Bewohner von Kifl Haris könnten vom Andenkenverkauf und von der Gastronomie und Hotellerie profitieren.

Wie weit dieser Wunschtraum von der Realität entfernt ist zeigt mir der Dokumentarfilm „The Settlers“ des israelischen Filmemachers Shimon Dotan über die Siedlerbewegung, den wir am gleichen Abend sehen. Einer der Anführer der Bewegung spricht ganz offen in die Kamera: „Die Araber können gerne unter uns wohnen. Wir lassen sie als Fremde unter uns wohnen, solange sie sich nicht gegen uns auflehnen. Aber dieses Land ist unser Land, und wir werden ihnen keine bürgerlichen Rechte geben. Wenn sie damit nicht einverstanden sind und gegen uns kämpfen, werden wir sie vertreiben und besiegen. Ich persönlich bevorzuge die Letzteren, denn ich achte einen Feind, der kämpft mehr als einen Feind, der feige aufgibt.“ Die national-religiösen Siedler sprechen nicht für alle Israelis. Doch ohne Zweifel stellen die Siedlungen und ihr weiterhin rasanter Ausbau eines der Haupthindernisse für eine Friedenslösung dar.

Jochen, April 2018

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Timnath-heres

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