Demolition

Eine unserer Aufgaben während des Einsatzes ist die Dokumentation von Menschenrechtsverstößen. Wenn wir nicht gerade zufällig vor Ort sind, sind wir auf Anrufe Betroffener angewiesen. Viele solcher Vorfälle während meines Einsatzes hatten mit Übergriffen von Siedlern zu tun, doch einmal wurden wir auch zu einer Demolition, einer Hauszerstörung gerufen.

Das Fundament ist alles, was an die zerstörten und konfiszierten Gebäude in Qusra erinnert. Foto © EAPPI
Das Fundament ist alles, was an die zerstörten und konfiszierten Gebäude in Qusra erinnert. Foto © EAPPI

Die israelischen Behörden reißen im Westjordanland aus unterschiedlichen Gründen regelmäßig Gebäude ab. Ein Grund ist die komplizierte und diskriminierende baurechtliche Lage. In Zone A und Zone B, insgesamt knapp 40% des Westjordanlands, wird Bebauung von der palästinensischen Autonomiebehörde  reguliert, jedoch nicht in Zone C, die unter vollständiger israelischer Kontrolle steht. In Zone C gilt Bestandsschutz für Gebäude, die älter als die Besatzung sind und nicht in der Nähe von Militäranlagen liegen, es ist jedoch in der Regel verboten, diese in irgendeiner Weise zu modifizieren. Für viele Gemeinden in den C-Gebieten gibt es keine Bebauungspläne oder nur solche, die  den heutigen Gegebenheiten und Bevölkerungszahlen kaum (mehr) entsprechen[1].

Jedes Bauvorhaben in Zone C muss zuerst bei der israelischen Verwaltung beantragt werden, ein langwieriges, aufwändiges Verfahren mit niedrigen bis gar keinen Erfolgschancen.

In den allermeisten Fällen werden daher Gebäude ohne vorherige Bewilligung gebaut, aus Sicht der israelischen Behörden also illegal. Solche „illegal“ errichtete Gebäude sind von Abriss bedroht. Noch im Bau befindliche Wohnhäuser und andere feste Bauwerke  bekommen zuerst eine „Stop-Work-Order“ und im Anschluss eine „Demolition-Order“, fertige Gebäude erhalten direkt eine Demolition Order. In einigen Fällen entschließen sich Eigentümer, der kostspieligen Zerstörung durch die Behörden zuvorzukommen und zerstören ihre Gebäude selbst. Wie schnell und ob nach einer Demolition Order tatsächlich der Bulldozer kommt, ist immer ungewiss. Laut UNOCHA sind in den C-Gebieten über 12.000 Objekte von Abriss bedroht[2]. Bei Objekten, die nicht fest verbaut sind (z.B. Geräteschuppen, mobile Toiletten) ist das Verfahren häufig schneller.

Überreste der Toilette, die vorher neben dem Schuppen eingerichtet war. Foto © EAPPI
Überreste der Toilette, die vorher neben dem Schuppen eingerichtet war. Foto © EAPPI

Am 18.06. wurde in der Nähe des Dorfs Qusra ein Geräteschuppen abgerissen. Der Geräteschuppen war traditionell errichtet worden. Zuerst wird eine Zisterne im Boden gebaut. Darauf ein Konstrukt aus Metallstriemen und Wellblech, in dem alle größeren Feldmaschinen und Geräte verstaut sind. Der eigentliche Besitzer des Feldes lebt in Ramallah, doch sein Angestellter wohnt in unmittelbarer Nähe und übernachtet häufiger auf dem Feld, weshalb einige persönliche Gegenstände von ihm im Schuppen waren.[3] Direkt neben dem Schuppen befand sich eine Toilette, mit im Boden eingelassenem Abwassertank.

Der Angestellte berichtete uns, dass er am Morgen um halb sechs Militärjeeps und Lastwagen auf das Feld hat fahren sehen. Er wollte näher heran gehen, doch Soldaten hatten das Feld umstellt und ließen ihn nicht näher kommen. Von einer Anhöhe etwas entfernt konnte er zusehen, wie alles abmontiert und auf den Lastwagen gehoben wurde. Zwei Stunden dauerte es, dann wurde  zusammengepackt und der Tross zog ab. Zurück blieben seine persönlichen Gegenstände und das Zisternenfundament. Auf ihm fand der Mann die offizielle Pfändungsbescheinigung mit einer Aufführung aller beschlagnahmten Dinge. Sie können gegen Gebühr wieder herausgegeben werden. Weder er noch der Eigentümer des Felds hatten vorher einen Abrissbescheid bekommen.

Die persönlichen Gegenstände des Farmers wurden vor dem Abriss aus der Hütte geräumt. Foto © EAPPI
Die persönlichen Gegenstände des Farmers wurden vor dem Abriss aus der Hütte geräumt. Foto © EAPPI

Nichts davon ist ungewöhnlich. Abrisse wie dieser passieren sehr häufig. Die UN berichtet, dass in den ersten Monaten des aktuellen Jahr durchschnittlich 45 Häuser oder andere Bauobjekte zerstört und/oder konfisziert wurden[4]. Doch dies war der Vorfall, zu dem wir gerufen worden.

An diesem Dienstag hatten wir einen späten Start in den Tag geplant. Erst um 10 Uhr hätten wir abgeholt werden sollen. Nach mehreren Tagen, an denen wir um sechs Uhr morgens bei den Schäfern zur Begleitung der Weidegänge waren, wollte das ausgenutzt werden. So lagen Fanny, mein Teammitglied aus Schweden, und ich noch im Bett, als um viertel nach acht mein Handy klingelte. Am anderen Ende war Ghassan, unser Fahrer. Ein lokaler Kontakt aus Qusra hatte ihn angerufen, heute Morgen hätte es dort eine „Demolition“ gegeben, er holt uns in zehn Minuten ab. Fanny und ich sind prompt aus dem Bett gefallen und beim hektischen Fertigmachen wirbeln die Sorgen durch den Kopf. Demolition kann alles bedeuten: Fahren wir zu einem zerstörten Familienhaus? Alles Hab und Gut unter Trümmern begraben, die Familie fassungslos und geschockt davor? Schlussendlich sind Fanny und ich so schnell, dass wir ein bisschen auf Ghassan warten müssen.

Auf der Fahrt kommt ein neuer Anruf. Der Abriss war nicht in Qusra selbst. Auf den Feldern des Dorfes wurde etwas abgerissen. Ghassan ringt um das richtige englische Wort. „Hut“? „Shed“? Jedenfalls etwas auf einer Zisterne. Im Jordantal würden solche Hütten gerade auch häufig abgerissen, berichtet Ghassan, und dort würden auch die Zisternen zerstört. In Qusra aber soll sie noch stehen.

Der Puls geht etwas runter, das klingt nicht ganz so furchtbar wie befürchtet. Wir kommen an auf einem großen Feld voller Olivenbäume. Unter einigen Bäumen wächst Gemüse in fein säuberlichen Reihen. Ich kann mir auf den ersten Blick nicht vorstellen, dass hier vor zwei Stunden noch etwas gestanden haben soll. Da ist ein Fundament im Boden, aber darauf ist keine Spur eines Gebäudes. Wir gehen näher und ich sehe ein paar Metallstangen an einer Stelle aus dem Beton ragen.

Neben der Zisterne sitzt eine kleine Männergruppe auf weißen Plastikstühlen, die uns begrüßt. Unser lokaler Kontakt, der ehemalige Bürgermeister Qusras, stellt uns einen Herrn vor, der auf dem Feld arbeitet. Er ist braungebrannt, und doch kommt er mir kreidebleich vor. Es gibt einen Kaffee für jeden und dann beginnt er zu schildern, was passiert ist. Seine Stimme bebt, die Wörter überschlagen sich, unser Fahrer übersetzt so schnell wie möglich.

Wir dokumentieren auch die entstandenen Schäden an den Olivenbäumen. Foto © EAPPI
Wir dokumentieren auch die entstandenen Schäden an den Olivenbäumen. Foto © EAPPI

Das einzige, was ich in diesem Moment machen kann, ist alles aufzuschreiben. Ich fühle mich hilflos, denn ich kann nichts Konkreteres tun. Mit der häufig wahrgenommenen Hilf- und Machtlosigkeit umzugehen ist eine der großen Herausforderungen unseres Einsatzes. Der Herr hat die ganze Zerstörung und Konfiszierung gesehen und das erste, was er gemacht hat, ist uns über unseren lokalen Kontakt zu informieren. Wir können ihm nicht direkt helfen. Wir werden einen Bericht schreiben, dieser wird an verschiedene UN-Institutionen und NGOs geschickt und für deren Öffentlichkeitsarbeit und Berichte verwendet. Und doch ist es für den Herrn von höchster Wichtigkeit, uns alles genau zu schildern, die ganze Gruppe, seine Angehörigen und Freunde, schaut uns erwartungsvoll zu.

Das einzige, was ich in diesem Moment machen kann, ist ihm durch meine Aufmerksamkeit zu zeigen, dass ich sein Schicksal ernst nehme. Ich schreibe alles auf, stelle Fragen, auch wenn vieles nicht relevant für den späteren Bericht ist.

Danach zücken wir unsere Fotoapparate. Nicht nur der Geräteschuppen ist weg, das Toilettenhäuschen wurde auch mitgenommen. Viele Bäume wurden beschädigt. Der Herr schickt uns zur anderen Seite des Feldes, denn die Soldaten waren von zwei Seiten auf das Feld gekommen. Zum einen durch das eigentliche Tor, doch hatten die Soldaten den Zaun auch an einer Stelle entfernt. Ich stelle erschreckt fest, dass wir durch dieses Loch der Soldaten auf das Feld gekommen sind. Auf dem Weg zum Tor laufen wir an dutzenden beschädigten Olivenbäumen vorbei, doch es fehlen die abgebrochenen Zweige. Am Rand des Feldes angekommen müssen wir uns die Frage stellen: Wo ist das Tor?

Durchtrennter und ausgewickelter Zaun am Rand des Feldes. Foto © EAPPI
Durchtrennter und ausgewickelter Zaun am Rand des Feldes. Foto © EAPPI

Wir finden eine Struktur, die entweder nie fertig gestellt oder schon vor Jahren zerstört wurde, zwei komplett zerstörte Olivenbäume und die Straße. Der Zaun ist ordentlich zur Seite gerollt, vom Gatter fehlt jede Spur. Ohne die Aussage des Herrn, dass es ein Tor gegeben hat, wäre mir nicht aufgefallen, dass etwas fehlt.

Fanny und ich sehen uns an, wir sind beide fassungslos.

Wir gehen zurück zur Gruppe bei der Zisterne. Der Herr wiederholt seinen Wunsch, anonym zu bleiben. Er befürchtet, dass ein personalisierter Bericht ihm noch weitere Probleme einbringen könnte. Es ist sein gutes Recht und wir versuchen auch nicht, ihn umzustimmen.

Und doch gibt es noch etwas, das ich tun kann: Die auf dem Feld Versammelten bitten uns mehrfach, in Europa von dem zu berichten, was wir gesehen haben. Den Menschen in Europa zu erzählen, was in Palästina passiert. Ich verspreche natürlich, dies zu tun, aber gleichzeitig spüre ich den Zweifel in mir. Objektiv gesehen ist diese Zerstörung uninteressant. Niemand hat persönlichen Schaden genommen, keiner ist obdachlos geworden. Im großen Schwarz-Weiß-Bild des Konflikts ist diese Zerstörung ein grauer Punkt in einem Meer von vielen, eine Banalität.

Doch nicht für mich. Ich war da, ich habe es dem Herrn versprochen. Und es ist wirklich das einzige, was ich für ihn tun kann.

Pia, im Juni 2019

Ich habe für pax christi Deutschland am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.btselem.org/planning_and_building

[2] https://www.ochaopt.org/content/under-threat-demolition-orders-area-c-west-bank

[3] Beide haben darum gebeten, anonym zu bleiben.

[4] https://www.ochaopt.org/content/west-bank-demolitions-and-displacement-may-2019

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