Besuch in Yad Vashem

„Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel“ – dafür steht die Abkürzung EAPPI. Schon in der Vorbereitung auf unsere Zeit im Land ist uns als wichtiger Gedanke mitgegeben worden: „Denkt immer daran, dass es ganz unterschiedliche Perspektiven auf eine Region, ein Land, einen Konflikt gibt.“ Ich denke, das war ein guter Rat und ich versuchte, ihn mir jeden Tag neu ins Gedächtnis zu rufen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir im Leben immer durch unsere eigenen Brillen schauen. Ich kann zum Beispiel gar nicht anders, als durch eine Brille auf die Welt zu schauen, die dadurch gefärbt ist, dass ich ein Mann bin. Und Deutscher. Kulturelles Lernen und Lernen im Allgemeinen funktioniert aber oft so, dass man zeitweise und versuchsweise auch Sichtweisen von anderen einnimmt. Im Bild gesprochen schauten wir bei unserer Begleitung der Menschen im Rahmen des EAPPI vielleicht zeitweise zusätzlich zu unserer eigenen auch durch diese ihre Brillen.[1]

Vor Ort verbrachten wir einen Großteil unserer Zeit mit der Begleitung von Palästinenser:innen, die unter der Besatzung und mit deren Auswirkungen leben. Durch diese intensive Teilhabe an ihrem Alltag lernten wir viel über palästinensische Sichtweisen und Perspektiven. Auch die Palästinenser:innen, die wir begleiteten, haben ihre Brillen, die geprägt sind durch individuelle und kollektive Erfahrungen und Narrative.

Gleiches dachte ich, als unser Begleitprogramm etwa zur Halbzeit des Einsatzes einen besonderen Fokus auf jüdisch-israelische Perspektiven gelegt hat. Wir hatten spannende Begegnungen mit Israelis aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen: So konnten wir uns mit einer Referentin unterhalten, die sich selbst dem national-religiösen Lager zuordnet.

Ein Rabbi, dem wir in Haifa begegnet sind, erzählte uns von verschiedenen Stationen seines Lebens – heute leitet er eine Synagogengemeinde, die sich zum Reform-Judentum zählt. Wir bekamen eine eindrückliche Führung durch das Viertel Mea Shearim in Jerusalem, in dem viele ultraorthodoxe Familien in zum Teil sehr einfachen Verhältnissen leben. Für mich sehr beeindruckend war auch die Vorstellung eines Projekts, in dem Palästinenser:innen und Israelis sich für zwei Jahre gemeinsam auf einen gemeinsamen Weg der Versöhnung begeben, um gemeinsam an Narrativen, Machtverhältnissen und Vorbehalten zu arbeiten.

Im Zentrum der Woche stand ein Besuch unserer Gruppe in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Besonders nahe ging mir der Ausstellungsteil über Auschwitz-Birkenau, da ich die Gedenkstätte dort als Teil meiner persönlichen Vorbereitung auf die Zeit in Israel und Palästina gerade erst vor ein paar Monaten besucht hatte und dieser Besuch bis heute noch bei mir nachklingt.

Es gibt Israelis, die die Ausstellung und andere Formen des nationalen Gedenkens an den Holocaust auch kritisch hinterfragen und die davor warnen, den Holocaust zum Instrument für eigene politische Interessen zu machen.[2] Die Frage, wie Erinnern in Zukunft gestaltet werden kann, schließt für sie zum Beispiel auch die Frage mit ein, ob die kollektive Erinnerung der Nakba[3] der Palästinenser:innen einen Platz im Gedenken des Staates bekommen kann, immerhin machen palästinensische Israelis etwa 20% der israelischen Bevölkerung aus.

Eingang zur Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem; © WCC-EAPPI
Eingang zur Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem; © WCC-EAPPI

Kurz bevor man Yad Vashem verlässt, kann man einen Gedenkort für die im Holocaust ermordeten Kinder besuchen. Fast hätte ich ihn übersehen. An einem Tag mit strahlendem Sonnenschein betrat ich einen fast komplett dunklen Raum, der nur durch Kerzenlicht minimal beleuchtet war. Diese Kerzen schienen links und rechts, oben und unten und überall zu sein. Im ersten Moment war ich völlig desorientiert. Mir wurde schwindelig, ich kam kurzzeitig ins Wanken und habe intuitiv nach etwas gegriffen. Zum Glück waren links und rechts Geländer, an denen ich Halt finden konnte. An ihnen habe ich mich vorgetastet und dann langsam verstanden, dass der ganze Raum aus Spiegeln besteht. Inzwischen weiß ich, dass in der Mitte nicht mehr als fünf Kerzen brennen. Aber der Raum lässt einen in eine Unendlichkeit eintauchen. In ihr werden von einem Tonband in einer Endlosschleife die bisher bekannten Namen der durch den nationalsozialistischen Rassenwahn ermordeten Kinder verlesen. Rosi Daisz, Sarah Blumenthal, Salomon Katz … Jeder Name ein viel zu kurzes Leben. Unnütz und brutal vernichtet. Insgesamt 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche. Drei Monate braucht das Band, um nur die bisher bekannten Namen vorzulesen.

Manchmal ist es gut, wenn wir ins Wanken gebracht werden. Manches, was wir sehen und erleben oder erstmal nur erahnen, ist einfach unglaublich verstörend. Und manchmal gilt es, die Dunkelheit vielleicht auch erstmal auszuhalten – nicht zu schnell Antworten parat zu haben und Lösungen. Ich war dankbar, dass ich Halt gefunden habe, ich bin eine ganze Weile geblieben. Bis irgendwann eine laute unsensible Reisegruppe durch den Raum stolperte und sich über fehlendes Licht beklagte. Aber bis dahin hatte ich einige Zeit in der Dunkelheit mit zumindest einigen wenigen Namen der Kinder.

Ich wünsche den Kindern Israels, den Kindern Palästinas und allen Kindern dieser Welt, dass sie in Freiheit und Würde leben dürfen. Und uns Erwachsenen, dass wir aus – zum Teil sehr dunklen – Vergangenheiten lernen und stets verantwortungsvoll für uns und unsere Kinder handeln.

Simon, im April 2023

Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

Titelbild: EAs in Bethlehem; © WCC-EAPPI

[1] Anm. d. A.: Die Tatsache, dass jede:r durch die eigene Brille einen unterschiedlichen Blick auf die Welt hat, darf natürlich nicht dazu führen, dass das Benennen von Unrecht, das Ringen um die Wahrheit und das Sammeln von harten Fakten vernachlässigt wird; so sind die Vorgaben internationalen Rechts in Situation von Krieg, Konflikten oder auch Besatzung maßgebliche Orientierungspunkte.

[2] Z.B. https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/zwischen-trauma-und-politisierung-das-holocaustgedenken-in-israel-swr2-leben-2021-10-12-100.html

[3] Als „Nakba“ wird die Flucht und Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenser:innen unmittelbar vor und während des israelischen Unabhängigkeitskriegs 1948/49 bezeichnet.

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