Beharrlichkeit und Hoffnung

Relief von Sliman Mansour an der Schule Talitha Kumi in Beit Jala; ©WCC-EAPPI/Christiane

Als ich vor drei Jahren als Ökumenische Begleiterin (EA) in der Westbank eingesetzt war, besuchte ich auch die Schule Talitha Kumi in Beit Jala. Der Name greift ein Bibelzitat auf und bedeutet „Mädchen steh auf!“ Bei meinem Besuch stieß ich auf ein Kunstwerk, das der Künstler Sliman Mansour, der selbst einmal Schüler der Schule war, Talitha Kumi gewidmet hatte.

In arabischer Schrift ist dort ein Wortspiel eingearbeitet, das sich auf den Namen der Schule bezieht: Palästina steh auf! Als ich vor einigen Wochen die Gelegenheit hatte, Sliman Mansour zu treffen, sprach ich mit ihm auch über das Relief. Er erklärte mir, dass die aus Ton modellierte Frau Heimat und auch Revolution symbolisiere. Die Friedenstaube weise darauf hin, dass Veränderung und Entwicklung gewaltfrei geschehen soll. Ich erinnere mich an den Eindruck, den das Relief damals bei mir hinterlassen hatte: Es strahlte Kraft und Hoffnung aus. Es spielten damals Kinder unterhalb des Reliefs auf dem Schulhof. Ein hoffnungsvoller, schöner Anblick.

Nun habe ich erneut drei Monate als EA in der Westbank verbracht und erlebte dort Übergriffe von Siedlern auf Palästinenser:innen und deren Eigentum und Zerstörungen von Seiten der israelischen Armee in einem Ausmaß, das ich vor drei Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Täglich fuhren wir nun zu Orten, an denen es Übergriffe gegeben hatte. So besuchten wir zum Beispiel Abu Youssef* in At Tuwani. Er lädt uns zum Frühstück ein. Wir erfahren, dass er erst 49 Jahre alt ist. Wir hatten ihn weit älter geschätzt. Er erzählt: „Ich bin müde in meinem Herzen.“ Das Dorf und seine Familie sind häufig von Übergriffen der Armee oder der Siedler betroffen. Vor etwa einem Monat seien nachts Soldaten in sein Haus gekommen. Ganz in der Nähe seiner 5jährigen Tochter wurde eine Knallgranate gezündet. Abu Youssef: „Nun hat sie einen schwarzen Punkt in ihrem Herzen“. So beschreibt er das Trauma seiner Tochter durch den nächtlichen Übergriff. Er erklärt, dass die Kinder in dem Dorf durch die negativen Erfahrungen mit Soldaten stark geprägt sind: „Was fühlst du als Kind, wenn die Soldaten auf deinen Vater zielen und ihn sogar verletzen? Wir versuchen unsere Kinder zum Frieden zu erziehen – aber das Verhalten der Soldaten zerstört alles.“

Unermüdlich übersetzt der Fahrer, was die betroffenen Menschen erzählen. Er selbst sagt einmal, er sei müde angesichts der sich stetig verschlimmernden Situation in seiner Heimat. Aber dann spricht er weiter: „Die Situation ist dunkel wie die Nacht. Da ist kein Licht. Und du weißt, die drei Stunden vor Sonnenaufgang sind die dunkelsten. Ich glaube, wir befinden uns jetzt in den drei dunkelsten Stunden. Aber das bedeutet auch, dass das Licht nahe ist.“

Es waren solche Gespräche, die mir zeigten, dass viele Menschen trotz der widrigen Umstände die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht aufgegeben wollen. Schließlich begann ich, Menschen konkret auf ihre Hoffnung anzusprechen.

Bei einem Meeting in einer Schule, die eine Stop-Work-Order erhalten hat und sich daher räumlich nicht weiterentwickeln kann, frage ich eine Vertreterin des Bildungsministeriums in Yatta, ob sie in diesen schwierigen Zeiten Hoffnung hat. Und sie antwortet: „Aber ich muss doch Hoffnung haben! Ich sage den Kindern: Ihr dürft nicht aufhören zu lernen! Wir wollen gute Dinge erleben und versuchen, weiterzuleben, zu überleben. Jeden Morgen machen wir die Augen auf und sagen zu uns selbst: Wir müssen unser Leben weiterleben. Wir sind stark genug, um es zu schaffen. Als Palästinenser sind wir es gewohnt, mit Problemen zu leben, deshalb machen wir weiter. Meine Familie und meine Religion helfen mir, trotz der ständigen Bedrohung nicht aufzugeben. Als palästinensische Mutter kann ich abends nicht ins Bett gehen, ohne alle meine Kinder beim Namen zu nennen und zu fragen, wie es ihnen geht. Wir verdienen es, ein gutes Leben zu haben.“

Der Ort Khallet Athaba in den South Hebron Hills ist immer wieder von Hauszerstörungen betroffen. Die Menschen jedoch bestehen auf ihrem Recht, hier weiterhin in Frieden leben zu dürfen; ©WCC-EAPPI/Finn

Wir werden gerufen, um die Zerstörung eines Olivenhaines zu dokumentieren. Abu Salim* und sein Sohn Hani* sind vor Ort und zeigen uns die von Bulldozern aufgerissene Erde, in der die vor sieben Jahren eingepflanzten Bäume – nun zerstört – liegen. Abu Salim: „Selbst wenn die israelische Armee hier alles zerstört, werde ich hier sein, meine Seele ist hier. Ich werde niemals aufgeben.“ Und Hani fährt fort: „Ich brauche kein Geld, ich brauche Freiheit. Wenn ich morgens aufwache und das Gesicht meines Vaters sehe und die frische Luft rieche, ist das genug für mich. Ich bin hier glücklich, mit meinem Vater und meiner Mutter. Das ist mein Boden. Das ist meine Seele. Das reicht mir.“

Dar Umm Nasser – Haus von Nassers Mutter: Das haben Kinder in Birin an ihr Haus geschrieben. Sie scheinen zu sagen: Hier leben wir, hier bleiben wir. Wir EAs besuchen die Familie regelmäßig, weil sie immer wieder von radikalen Siedlern bedrängt wird; ©WCC-EAPPI/Christiane

Wenige Tage später begegne ich bei einer Solidaritätsveranstaltung für Massafer Yatta einer jungen Lehrerin aus Nablus. Auf meine Frage, ob sie Hoffnung in diesen Zeiten habe, antwortet sie sogleich: „Sicher! Könntest du ohne Hoffnung leben? Wenn ich am Morgen aufwache, habe ich neue Hoffnung. Ich bin sicher, dass es in dieser Welt Gerechtigkeit gibt. Wir werden diese Hoffnung nicht verlieren!“ Auf meine Nachfrage, ob sie an eine Zukunft in Frieden glaube, denkt sie einen Augenblick nach und antwortet: „Mein Großvater hat mir erzählt, dass unsere Familie friedlich mit Juden und Christen in einer Nachbarschaft gelebt hat, früher gab es solche Probleme nicht. Meine Religion sagt, dass alle Religionen zusammenleben können, weil wir alle gleich sind. Aber hier gibt es keine Gleichheit, keine Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben. Du hast einen Menschen gesehen, der sein Land liebt, der viel Zeit damit verbringt, es hegt und pflegt und es wirklich von Herzen liebt. Der einen Baum auf seinem Land pflanzt und die Früchte erntet. Aber plötzlich kommt ein Soldat und entwurzelt diesen Baum. Der Soldat sagt: ´Der gehört dir nicht.´ Welch eine Ungerechtigkeit! Und weil wir sehr wohl wissen, dass dies Unrecht ist, sind wir sicher, dass es Gerechtigkeit gibt.“

Als ich an einem freien Tag in Ostjerusalem in einem Buchladen bin, frage ich Achmed, den Buchhändler, ob es so etwas wie Hoffnung geben könne für die Region. Er schaut mich verwundert an und antwortet: „Wir haben alles verloren, wir haben eine Mauer, die Menschen voneinander trennt. Das einzige was uns zusammenhält und nicht aufgeben lässt, ist die Hoffnung.“ Ich frage nach, wie ein Frieden mit Israel aussehen könne. Und er antwortet: „Du kannst Gerechtigkeit und Frieden nicht voneinander trennen. Wir brauchen zuerst Gerechtigkeit. Wir wollen Gerechtigkeit und Frieden!“

Perserverance and Hope von Sliman Mansour, mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

Im Buchladen fällt mir eine Postkarte mit dem Bild von Sliman Mansour in die Hand, das den Titel Perseverance and hope[1] (Beharrlichkeit und Hoffnung) trägt. Ich setze mich mit dem Künstler in Verbindung, um mehr zu erfahren über dieses Bild, und bald schon treffen wir uns für ein Gespräch.

Im Zentrum von Perserverance and hope sind zwei einander gegenüberstehende Palästinenser und eine Palästinenserin zu sehen. Die Frau ist im traditionellen palästinensischen Kleid mit kunstvoller Stickerei gekleidet. Der Mann links im Bild trägt die Kufiya, das traditionelle palästinensische Tuch, locker um den Hals geschlungen. Sliman Mansour erklärt mir, dass er durch die Verwendung von Symbolen aus dem palästinensischem Leben, der palästinensischen Kultur, Geschicht und Tradition die Entschlossenheit und Verbundenheit der Palästinenser:innen mit ihrem Land darstellen möchte.

Alle drei schauen nach oben. Knapp über ihren Köpfen, buchstäblich zum Greifen nahe, fliegt eine Taube, die die Farben des Himmels hat: Weiß und Blau. Die drei Menschen scheinen sehnsuchtsvoll und ernst zur Taube emporzublicken. Die Hände der drei sind hinter dem Rücken gefesselt. Auffallend ist, dass die Hände überdimensional groß sind im Verhältnis zum Körper. Sliman Mansour sagt, dass er Palästinenser und Palästinenserinnen grundsätzlich mit übergroßen Händen malt. Dies zeige ihre Verbundenheit mit dem Land, das sie mit ihren Händen bearbeiten.

Im Hintergrund zu erkennen sind Menschen, deren Augen und Münder von Soldaten und Menschen in arabischer Kleidung verbunden werden. Hinter ihnen sind palästinensische Dörfer zu sehen, die von Bulldozern zerstört werden, daneben eine Zeltstadt, die an ein Flüchtlingslager erinnert. Links im Bild ist eine Reihe von gekrümmt gehenden Männern zu sehen, die schwere Rohre auf dem Rücken tragen, hin zu Wohngebäuden, die einer israelischen Siedlung ähneln. Im äußersten Hintergrund ist eine Kette von Bergen zu sehen, über die sich der Himmel erhebt. Ein dunkler Himmel, an dem jedoch ein Lichtstreif zu erkennen ist.

Die Taube ist das einzig abstrakte Element des Bildes. Mit Sliman Mansour spreche ich über ihre Symbolik. Jedes Körperteil scheint die Form einer Träne oder eines Tropfens zu haben, der Flügel scheint mit dem Himmel zu verschmelzen. Abgesehen von dieser spirituell anmutenden Verbindung können diese Formen für das Leid stehen, das tiefe Wunden aufgerissen hat.

Was mich an diesem Bild besonders berührt ist die aufrechte Haltung der drei Personen und vor allem, wie sie ihren Kopf erheben, die Taube mit ihren Augen fixieren, als könnten sie sie mit den Blicken festhalten. Bei all der Zerstörung strahlen sie in meinen Augen eine tiefe Ruhe und Standhaftigkeit aus.

Sliman Mansour hat dieses Bild 1976 gemalt, 9 Jahre nach Beginn der Besatzung. Doch vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die ich in den vergangenen Monaten gemacht habe, denke ich, dass es an Aktualität nichts verloren hat. Es zeigt die Repressalien der Besatzung, die für viele Palästinenser:innen allgegenwärtig sind. Die Menschen, die ich nach ihrer Hoffnung und nach der Aussicht auf Frieden fragte, waren sich einig, dass Gerechtigkeit und Frieden zusammengehören: Ohne Gerechtigkeit könne es keinen Frieden geben.

Beharrlichkeit und Hoffnung, das symbolisieren für mich auch die israelischen Menschenrechts-aktivist:innen, die ich in den South Hebron Hills getroffen habe, z.B. im Rahmen sogenannter Landaktionen. Die Landaktionen wurden ins Leben gerufen, damit Menschen in den South Hebron Hills in Begleitung von Israelis und Internationalen auf ihr Land gehen können, ohne Übergriffe von Siedlern fürchten zu müssen. Die Zeit wird dann z.B. zum Pflügen, Pflanzen oder Ernten genutzt. Yaakov*, 75 Jahre alt, ist unermüdlich bei allen Landaktionen am Wochenende dabei. Er reist auch unter der Woche an, wenn es zu Übergriffen von Siedlern oder Armee kommt. Bei einer Hauszerstörung fällt uns EAs auf, dass er besonders niedergeschlagen zu sein scheint. Wir sprechen mit ihm, laden ihn unter anderem ein, uns in unseren Heimatländern zu besuchen. Seine Antwort: „In meinem Leben werde ich dieses Land nicht mehr verlassen. Ich muss hier sein, wenn Unrecht geschieht.“ Shaul*, 19 Jahre alt, verweigert den Armeedienst. Er musste bereits mehrmals für 40 Tage ins Gefängnis. In der Zeit zwischen den Aufenthalten im Gefängnis nimmt er samstags an den Landaktionen teil. Ich fragte ihn, ob das nicht hart sei, seine Zeit entweder im Gefängnis oder in der Westbank bei den Landaktionen zu verbringen, bei denen es nicht selten zu Provokationen von Siedler:innen oder Willkür seitens der Armee kommt. Er schaute mich fröhlich an und sagte: „Das ist nicht hart. Ich weiß genau was ich zu tun habe und dass das, was ich tue, richtig ist. Es entspricht meinen Werten. Wie ich mein Leben gestalte ist genau richtig so.“

Ich denke an den Buchhändler Achmed und das, was er mir noch mit auf den Weg gegeben hatte: „Wir sollten handeln und die Idee nicht aufgeben, dass wir eine Zukunft in Frieden haben können.“

Christiane, im Januar 2023

*Namen geändert

Ich habe für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von pax christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://artsandculture.google.com/asset/perseverance-and-hope/4gHYUBLz_B0m1A?hl=de

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