Umgeben von Siedlungen

Von Shoshahla blickt man in alle Richtungen auf Siedlungen (blau); Karte PeaceNow, Markierung Shoshahla zugefügt
Von Shoshahla blickt man in alle Richtungen auf Siedlungen (blau); Karte PeaceNow, Markierung Shoshahla zugefügt

Das Dorf Shoshahla liegt etwa fünf km südlich von Bethlehem. Es ist das erste Dorf, das ich hier als Ecumenical Accompanier und Teil des EAPPI Bethlehem-Teams besuche. Ich bin kaum eine Woche hier und allein dieser einzelne Besuch lehrt mich mehr darüber was es heißt, von Siedlungen umgeben zu sein, als ich zuvor aus Büchern, Artikeln und Dokumentationen erfahren konnte.

Shoshahla als Dorf zu bezeichnen entspricht kaum der heutigen Realität des Ortes: Shoshahla war einmal ein Dorf, gegründet in den 1870er Jahren. Nach der Besetzung der Westbank 1967 und mit Gründung der Siedlungen in der Umgebung des Dorfes kam es immer wieder zu Übergriffen auf die Einwohner*innen von Shoshahla durch Militär und Siedler, bis schließlich 1985 alle Familien das Dorf verlassen hatten. 1992 beschloss ein Mann namens Muhannad Salah, mit seiner Familie nach Shoshahla zurückzukehren. 2015 folgten drei weitere Familien. Sie versuchen auf ihrem Grund und Boden, der Besatzung und den widrigen Lebensumständen trotzend, die Stellung zu halten, damit ihr Land nicht einer weiteren Siedlung weichen muss.

Blick von Shoshahla zur Siedlung Efrat mit ihren relativ neuen Stadtteilen Givat Hatamar (Bildmitte) und Givat Hadagan (linker Bildrand); © EAPPI
Blick von Shoshahla zur Siedlung Efrat mit ihren relativ neuen Stadtteilen Givat Hatamar (Bildmitte) und Givat Hadagan (linker Bildrand); © EAPPI

Seit dem Osloer Abkommen liegt Shoshahla in Area C und gehört damit zu den 60 Prozent der besetzten Westbank, die praktisch jeglicher palästinensischen Kontrolle entzogen sind. Sowohl für administrative als auch sicherheitspolitische Angelegenheiten sind hier ausschließlich israelische Organe zuständig. Sie entscheiden unter anderem über Baugenehmigungen und über den Zugang der Palästinenser zu ihrem Land. Von Israel wird Area C zunehmend wie eigenes Staatsgebiet behandelt: Trotz des darin liegenden Verstoßes gegen das Humanitäre Völkerrecht wird die Enteignung von palästinensischem Land, der staatlich subventionierte Bau israelischer Siedlungen und damit die Übersiedlung der eigenen Bevölkerung betrieben. Anders als der Begriff „Siedlung“ vermuten lässt, handelt es sich bei ihnen nicht um Ansammlungen von wenigen Häusern, sondern meist um voll entwickelte Städte mit mehreren tausend (bis zu 65.000) Einwohnern, Straßen, Supermärkten, Schulen, Bürokomplexen, Fabriken etc.

Nur wenige Meter vom Haus der Familie Salah stehen die Strommasten der Siedlung Neve Daniel; © EAPPI
Nur wenige Meter vom Haus der Familie Salah stehen die Strommasten der Siedlung Neve Daniel; © EAPPI

Shoshahla liegt an einem Hang. Um dorthin zu gelangen müssen wir das Auto stehen lassen und den Weg zu Fuß erklimmen. An diesem Tag empfangen uns die Eltern von Muhannad Salah, dem ersten „Rückkehrer“, sehr herzlich. Saad, Muhannads Vater, erzählt uns, dass der Zugang über die Straße von den nahe lebenden Siedlern immer wieder durch Geröll und Müll unpassierbar gemacht wird. Muhannads Mutter ist so nett, uns das ganze Haus zu zeigen. Gemeinsam sitzen wir dann mit ihnen auf der Terrasse. Schaut man von dort aus auf die umliegende Landschaft, erblickt man nichts anderes als israelische Siedlungen. Die nahegelegenste, Neve Daniel, ist nur etwa 200 Schritte entfernt vom Haus der Familie. Nur ein Zaun trennt ihr Grundstück von der Siedlung.

Die einfache Behausung der Familie Salah; © EAPPI
Die einfache Behausung der Familie Salah; © EAPPI

Das Leben in Shoshahla, so berichtet uns Saad, ist schwierig. Während in den Siedlungen nebenan die Menschen in Häusern und Apartments mit Klimaanlagen und Pools residieren, bleibt den Menschen hier der Zugang zu Strom und fließendem Wasser verwehrt. Um die Versorgung einzurichten, brauchen Palästinenser*innen in Area C eine Baugenehmigung von den israelischen Behörden – nur weniger als zwei Prozent aller Anträge werden genehmigt[1], Muhannad und seine Mitstreiter gehören zu den abgewiesenen 98 Prozent. Der Wasserbedarf wird umständlich aus einem Brunnen gestillt, zum Kochen dient ein Gaskocher, nach Einbruch der Dunkelheit werden Kerzen und Laternen angezündet. Muhannads Frau und Tochter leben daher die meiste Zeit im nahen Dorf Al Khader, ihnen fehlt die Elektrizität für die Haus- und Schularbeit. Dabei wäre die Versorgung mit Elektrizität ein Leichtes. Nur wenige Schritte entfernt, leicht erkennbar vom Haus der Salahs, thronen, fast schon den Lebensumständen in Shoshahla spottend, die Strommasten der Siedlung Neve Daniel. Doch ein Anschluss an diese bleibt ein Traum für die Zukunft. Sollte dieser eines Tages Realität werden, wollen laut den Salahs über 100 weitere Personen zu ihren Häusern und Grundstücken zurückkehren.

Dass Shoshahla den Siedlern aus Neve Daniel ein Dorn im Auge ist, bekommen die Einwohner durch wiederkehrende Übergriffe zu spüren. Nachts, so berichtet Saad, kommen manchmal junge männliche Siedler zwischen 20 und 30 Jahren, beschädigen Bäume, Einrichtungsgegenstände, Grundstücke oder Häuser. Ein Stein, mit dem die Aufschrift auf dem Haus seines Sohnes Muhannad durchschlagen wurde, birgt Zeugnis von den Übergriffen. Im letzten Jahr, so erzählt es unser Taxifahrer und Übersetzer, wurde ein Brandanschlag auf das Haus von Muhannad verübt. Auch tagsüber erscheinen laut Saad Siedler, um in den Bewässerungsbecken der Farmer zu baden. Nahe des Hauses wurde die Botschaft „Tot den Arabern“ mit Sprühfarbe hinterlassen. Die Privatsphäre der Familie wird von Kameras ausgehöhlt, die, an den Strommasten angebracht, das Tun der Dorfbewohner 24 Stunden am Tag filmen.

Das zerstörte Schild an Muhammads Haus zeugt von einem Übergriff durch Siedler; © EAPPI
Das zerstörte Schild an Muhammads Haus zeugt von einem Übergriff durch Siedler; © EAPPI

Es gibt wenig, was die Familie dagegen unternehmen kann. Die israelische Armee, die in Area C für die Durchsetzung des Militärrechts gegenüber den Palästinensern zuständig ist, bietet keinen Schutz. Saad und sein Sohn haben dies schmerzhaft lernen müssen. Obwohl die Armee – entsprechend den Geboten internationalen Rechts – auch den Schutz der Palästinenser in den C-Gebieten gewährleisten müsste, gilt in der Realität der Schutz mehrheitlich den Siedlern und deren Interessen. Aussage gegen Aussage, ohne Beweise sei nichts zu machen, bekamen Muhannad und Saad nach Vorfällen mehrfach zu hören – die Kameras der Siedlung hätten zum Zeitpunkt der Übergriffe technische Defekte gehabt, so wurden ihnen gesagt.

Bis vor kurzem schien zumindest für die Stromversorgung der Einwohner eine Lösung zum Greifen nahe: Eine Hilfsorganisation schenkte den Bewohnern des Dorfes Solarpanels. Doch die Freude währte nur kurz. Die vier Familien erhielt wenig später – aufgrund der erzwungenermaßen ungenehmigten Installation – Anweisungen, die Arbeit einzustellen, sie müssen sich nun vor Gericht behaupten. Aus Angst davor, dass ihre Solaranlage vom Militär konfisziert oder noch zuvor von Siedler zerstört werden könnte, haben die Salahs diese abgebaut und in einer naheliegenden Stadt in Sicherheit gebracht.

Saad seufzt: „Wir wollen in Frieden leben und nicht im ständigen Konflikt. Wir wollen unsere Rechte, wollen unsere Straßen erreichen können, wollen Wasser und Elektrizität  – wie die meisten Menschen auf der Welt.“ Ob wir zuhause darüber berichten können, damit unsere Länder sich für ein Ende der Besatzung engagieren. Das können wir. Hoffentlich werden wir gehört.

Sanya, März 2018

[1] https://www.btselem.org/planning_and_building

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