Ismail und das Al-Arroub Refugee Camp

Teil 3 der Portraitreihe: Unter Besatzung – Palästinensische und israelische Alltagsstimmen

Ismail aus Al-Arroub
Ismail aus Al-Arroub

„Ich erkläre meinen Namen immer so: ‚Smile‘ und dann noch ein ‚I‘ davorgesetzt“. Und tatsächlich: Der Name ist Programm! Ich habe selten jemanden so herzlich lächeln und lachen gesehen. Und dabei kennt er uns kaum. Und hat schon so viel schlimmes erlebt! Ismail ist 23 Jahre alt und studiert normalerweise Krankenpflege in Ramallah. Gerade sind jedoch Ferien, so dass er im Moment wieder bei seiner Familie in Al-Arroub lebt. Er hat vier Brüder und vier Schwestern, von denen schon zwei verheiratet sind und mit ihren Ehemännern leben. Ismail führt uns heute durch das Al-Arroub Flüchtlingslager, das nach der Nakba, den Flüchtlingsströmen in 1947/48, entstanden ist. Zunächst waren es nur ein paar Zelte gewesen, dann hat die UN relativ schnell geholfen und 1949 Steinhäuser in das Camp gebaut. Hätte ich es nicht gewusst, wäre ich heute niemals auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei (noch immer) um ein Flüchtlingslager handeln könnte; es sieht eigentlich aus wie eine ganz normale palästinensische Gemeinde. Die Bewohner*innen leben jedoch auf wesentlich engerem Raum zusammen und die Beziehungen sind dadurch ebenfalls enger, erklärt uns Ismail. Noch immer wird das Lager von der UN relief and work agency (UN R.W.A.)-Abteilung geleitet. Doch das schützt es nicht vor der Präsenz israelischer Soldat*innen. Diese haben einen Wachturm direkt am Eingang gebaut und dringen oft nachts in das Camp und die Häuser ein.
In Al-Arroub leben etwa 10.400 Menschen auf 0,24 km2. Die Arbeitslosenrate liegt bei 30 Prozent.1 Für Wasser und Strom müssen sie nicht bezahlen, erklärt uns Ismail.
Da das Camp aber überfüllt ist, bauen immer mehr Menschen außerhalb der Campgrenzen Häuser. Das heißt einerseits, dass sie höhere Ausgaben haben, wie beispielsweise für Strom und Wasser. Andererseits kann es jedoch auch passieren, dass die Menschen, ohne es zu wissen, auf Land bauen, das in Area C liegt und somit komplett unter israelischer Kontrolle steht. Familie Mughrabi ist es so ergangen: Seit vier Jahren baut der Vater Khalid Ismail Khalid Al Mughrabi für seine Familie (seine Frau ist gerade schwanger, sie haben noch zwei kleine Töchter) an einem Haus, damit sie aus den beengten Verhältnissen, in denen sie zurzeit gemeinsam mit den Familien seiner beiden Brüder leben (22 Menschen auf drei Stockwerken), ausziehen können. Letztes Jahr erhielt er eine Anordnung, dass er den Bau beenden muss, weil er auf israelischem Land bauen würde. Es folgt ein weiterer Hinweis im Juli diesen Jahres, aber keine offizielle sogenannte ‚demolition order‘. Trotzdem kommen am 05. August die Bulldozer und Soldat*innen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, ohne ihn zu informieren, und zerstören sein noch im Bau befindliches Haus um 5:00 Uhr morgens innerhalb von nur einer Stunde. Schaden: 100.000 Schekel, etwa 25.000 €.
Wir treffen auch den Assistenten des UN Managers des Flüchtlingslagers, Mahmoud Ahmad Titi, der uns sagt: „Es ist wirklich schlimm unter Besatzung zu leben. Es ist nicht fair und es gibt keine Hoffnung!“ Ismails Vater Ismail Deeb Saeed Hajajreh, ein herzlicher, etwas gemütlicher Herr, ergänzt später: „Wir fühlen keine Freiheit! Nach 20:00 Uhr abends gibt es kein Leben mehr auf der Straße, weil alle Angst vor den Soldat*innen haben“.

Ismails Haus im Al-Arroub Refugee Camp
Ismails Haus im Al-Arroub Refugee Camp

Es geht weiter durch das Camp. Auch die deutsche KFW Entwicklungsbank hat das Camp finanziell unterstützt, wie uns Ismail zeigt. Dann erreichen wir sein Haus. An der Hauswand steht: „#Free Gaza“ und „EAPPI UR Welcome in Al-aroub camp. Ismail“. Wir sind gerührt, dass unser Programm solch eine Verewigung erhalten hat. Bei kalten Getränken und einem kleinen Snack unterhalten wir uns ausgelassen.

Doch dann erzählt Ismail von seiner Verhaftung und seinen Erfahrungen im Gefängnis und plötzlich ist sie wieder da, die brutale Realität der Besatzung: Gemeinsam mit seinem Bruder hatte Ismail im Camp ein Graffiti zu Ehren der palästinensischen Gefangenen, die wegen ihres Widerstands gegen die israelische Besatzung verurteilt worden waren, gemalt. Einen Tag später, gegen 3:00 Uhr morgens, stürmen neun israelische Soldat*innen das Haus. Da er mit Kopfhörern Musik gehört hatte, hatte er das Klopfen zuvor nicht gehört. Sie verlangen seinen vollen Namen, seine Passnummer und seine Telefonnummer (diese drei Dinge werden oft zur exakten Identifizierung und Registrierung verlangt). Als die Soldat*innen ihn mitnehmen wollen, ohne dass er sich von seiner Familie verabschieden darf, fängt er an die Soldat*innen zu schubsen und besteht auf seine Rechte, die ihm während einer Verhaftung zustehen. Daraufhin richtet einer der Soldat*innen, vermutlich ein ranghöherer Offizier, sein Gewehr auf Ismails Brust und erklärt ihm: „Ismail, ich habe das Recht dich hier auf der Stelle zu erschießen. Heute Nacht mache ich die Rechte“. Er durfte seinen Eltern nicht einmal die Hand zum Abschied geben. Zudem warfen die Soldat*innen beim Verlassen des Hauses eine Rauchbombe. „Damit meiner Familie auch noch die Chance genommen wurde, mir nachzuschauen“, erklärt er.

33 Tage musste er alleine in einem winzigen Raum verbringen, und er aß nur so viel, dass es zum Überleben reichte, weil es ihm, so fühlte es sich an, wie einem Hund serviert wurde. Erst danach kam es zu der richterlichen Anhörung und schlussendlichen Verurteilung zu fünf Monaten Haft und 2.000 Schekel Buße (etwa 500 €). Von März bis August 2013 war er im Gefängnis. Seither kümmert er sich nicht mehr um Politik, weil er nicht eine Minute seines Lebens mehr in einem Gefängnis verschwenden möchte. Als ich ihn frage, ob es denn nicht auch politisch sei, mit uns zu sprechen und als Kontaktperson von EAPPI zu arbeiten, macht er es deutlicher: „Die Politik kümmert sich nicht um uns, also kümmern wir uns auch nicht um Politik! Meine Familie hat schon zu sehr darunter gelitten, dass wir politisch waren“.

Ich habe schon öfter gehört, dass genau diese, sehr nachvollziehbare Reaktion das Ziel der israelischen Regierung ist: Die nächste Generation Palästinenser*innen soll so sehr abgeschreckt werden, dass sie jegliches Interesse an Politik und Aktivismus gegen die Besatzung verliert. Bei Ismail haben sie jedoch zumindest versagt, ihn zu verbittern und mit Hass zu erfüllen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie optimistisch und friedlich er trotz all dieser Erfahrungen ist und er sagt selbst „Ich liebe alle Menschen und hasse niemanden. Religion spielt keine Rolle in den Beziehungen zu anderen Menschen. Ich kann keiner Fliege etwas zu Leide tun, wie könnte ich da einen Israeli töten, auch wenn sie [die israelische Regierung/ das israelische Militär] meinen Onkel getötet haben und es mir so sehr leid tut um die Gesamtsituation“. Wir fragen ihn, was wir tun können, um zu helfen, und er antwortet, lächelnd wie immer: „Ihr könnt helfen, indem ihr unsere Geschichten teilt und verbreitet. Die Welt muss von unserem Leiden unter den israelischen Soldat*innen wissen, sie muss von unserem Leben hier erfahren. Dass ihr zuhört ist fantastisch. Teilt unsere Geschichten mit der Welt und ihr steht uns bei!“

Corinna, September 2015

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