Wenn der Bagger sein Zerstörungswerk verrichtet

In Beit Hanina, einem Stadtteil Ost-Jerusalems, verlieren 15 Menschen ihre Heimat – und Ökumenische Begleiter*innen erleben die Folgen von jenen Abrissbefehlen, die seit 2009 schon fast 10.000 Menschen obdachlos gemacht haben. Denn diese ist nur eine von Tausenden Hauszerstörungen, die Palästinenser in Ostjerusalem und den anderen israelisch besetzten Gebieten in den vergangenen zehn Jahren zu erleiden hatten.  

Die Nachricht kommt um acht. Die Bagger rücken 15 Minuten später an. Genau  diese Viertelstunde bleibt, um wenigstens die wichtigsten Wertgegenstände aus einem Dutzend Lebensjahren zu sichern. Dann kann die Familie Rajabi nur noch zuschauen, wie ihr Haus in Beit Hanina, einem palästinensischen Wohnort nördlich des Jerusalemer Zentrums, zertrümmert wird. Wenige Stunden später, als die Ökumenischen Begleiter*innen des EAPPI-Programms eintreffen, sind die Soldaten, die das Ostjerusalemer Viertel umstellt haben – mehr als 200 waren es nach Darstellung der Betroffenen – schon wieder abgezogen. Und aus dem zweigeschossigen Gebäude ist eine knapp  zwei Meter hohe Schicht aus Beton- und Eisentrümmern geworden, zwischen denen die Familienmitglieder versuchen, noch etwas von dem darunter begrabenen Hab und Gut aufzufinden.

Überreste des zweistöckigen Hauses nach der Zerstörung in Beit Hanina, Ost-Jerusalem. Foto © EAPPI
Überreste des zweistöckigen Hauses nach der Zerstörung in Beit Hanina, Ost-Jerusalem. Foto © EAPPI

Auf rund 220 Quadratmetern Wohnfläche war das Haus für 15 Menschen, darunter drei Kinder, 13 Jahre lang Rückzugsort, Zuhause, eine Heimat. Klar, ganz sicher war diese Heimat nie, das weiß auch das Familienoberhaupt Ibrahim Rajabi, der hier bislang mit seiner Mutter, seiner Frau, mit Schwester und Bruder sowie der Frau des Bruders und den Kindern gelebt hat. Denn die Rajabis haben das Haus ohne Baugenehmigung errichtet – die zu erhalten für Palästinenser in Ost-Jerusalem sehr schwierig bis unmöglich ist, wie unter anderem eine neue Studie von Peace Now belegt[1].

Vor 13 Jahren schon, kurz nach Fertigstellung, kam die „Demolition Order“. Damals lebte auch Ibrahims Vater noch, erzählt er unter Tränen, und seither haben die Rajabis gegen diesen Zerstörungsbefehl prozessiert. Was eine Hauszerstörung anrichten kann, hatten die Rajabis seit drei Jahren stets vor Augen. Denn direkt neben dem zerstörten Gebäude sind noch die Ruinen des Nachbarhauses zu sehen, das Ibrahim Rajabis Tante Linda Rajabi gehörte und das 2016 zerstört wurde, gleichfalls wegen fehlender Baugenehmigung, wie Linda Rajabi, die Zeugin der weiteren Hauszerstörung ist, erzählt.  „Ich dachte, wir haben noch eine Chance vor Gericht“, sagt Ibrahim Rajabi. „Unser Anwalt hatte gerade einen neuen Anlauf dazu genommen.“ Doch vergebens.

Ibrahim Rajabi vor den Trümmern seines Hauses. Foto © EAPPI
Ibrahim Rajabi vor den Trümmern seines Hauses. Foto © EAPPI

Dabei hatten die Rajabis schon eine Strafe für das Bauen ohne Genehmigung akzeptiert. Immerhin 120.000 Schekel, rund 30.000 Euro. Für Palästinenser kann dies leicht das Vier- bis Sechsfache ihres Jahreseinkommens sein.  Die Rajabis waren deshalb auf Ratenzahlung angewiesen. Sie zahlen nach Ibrahim Rajabis Worten seit acht Jahren 1400 Schekel im Monat und werden noch weitere zwei Jahre zahlen müssen. Einschließlich Zinsen belaufen sich die Gesamtkosten für diese Strafe dann auf 168.000 Schekel. Nun erhalten sie eine weitere Rechnung für den Abriss und den Einsatz der Soldaten.

So bleibt, statt einer Bleibe, nur ein Berg von Schulden. Die Tante, die in dem 2016 zerstörten Nachbarhaus gelebt hat, erzählt, dass sie deshalb fortziehen musste. Ibrahim Rajabi und seine Familienmitglieder leben einstweilen in Zelten neben der Ruine ihres Hauses. „Wie sich das anfühlt?“, nimmt Ibrahim Rajabi eine Frage der Ökumenischen Begleiter*innen auf – und gibt sie zurück: „Wie würdest  du dich fühlen, wenn deine Existenzgrundlage vernichtet ist?“

Hauszerstörung und Baugenehmigungen – gegenläufige Trends in und um Jerusalem

Eine Übersicht des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten zu Hauszerstörungen in der Westbank einschließlich Ost-Jerusalem seit 2009. Grafik © UNOCHA-OPT
Eine Übersicht des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten zu Hauszerstörungen in der Westbank einschließlich Ost-Jerusalem seit 2009. Grafik © UNOCHA-OPT

Nach der jüngsten Statistik von Ocha, der UN-Behörde zur Koordination Humanitärer Hilfe, beläuft sich die Zahl zerstörter Häuser in Ostjerusalem und der Westbank seit 2009 auf mehr als 6000. Davon betroffen sind nach Ocha-Angaben mehr als 100.000 Menschen, fast 10.000 wurden obdachlos. Opfer von „Demolition Orders“ werden Palästinenser in aller Regel, weil sie ihre Häuser ohne Baugenehmigung errichten.

Verteilung der Baugenehmigungen in Jerusalem. Grafik © Peace Now
Verteilung der Baugenehmigungen in Jerusalem. Grafik © Peace Now

Die Friedensorganisation Peace Now hat soeben eine Analyse veröffentlicht, die auf Daten der Stadtverwaltung Jerusalem aus den Jahren 1991 bis 2018 basiert. Auf dieser Grundlage konstatiert Peace Now, dass von den 57.737 Baugenehmigungen, die es in dieser Zeit gab, genau 9526 Palästinensern erteilt wurden.[2]  Das sind 16,5 Prozent für eine Population, die 38 Prozent der Bevölkerung Jerusalems stellt. Und der Trend stellt sich nach Peace Now wie folgt dar: Seit 1967 sind in Ostjerusalem 12 israelische Siedlungen mit mehr als 55.000 Wohneinheiten entstanden. Davon seit 1991, also dem Jahr der Madrider Friedenskonferenz, die in die Vereinbarungen von Oslo mündete,  21.834. Seit der  Wahl Benjamin Netanjahus 2009 ist die Zahl der Baugenehmigungen für Siedlungen in Jerusalem um 33 Prozent, seit der Wahl Donald Trumps um 58 Prozent gestiegen, in absoluten Zahlen: 2017 und 2018 wurden 1861 Wohneinheiten in den nach internationalem Recht illegalen Siedlungen in Ost-Jerusalem genehmigt.

Daniel, Oktober 2019

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von Pax Christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://peacenow.org.il/en/jerusalem-municipal-data-reveals-stark-israeli-palestinian-discrepancy-in-construction-permits-in-jerusalem

[2] https://app.powerbi.com/view?r=eyJrIjoiMmJkZGRhYWQtODk0MS00MWJkLWI2NTktMDg1NGJlMGNiY2Y3IiwidCI6IjBmOWUzNWRiLTU0NGYtNGY2MC1iZGNjLTVlYTQxNmU2ZGM3MCIsImMiOjh9

 

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