Unangenehme Begegnung

Die Übergriffe durch Siedler nehmen in der Westbank zu

Ökumenische Begleiterin beobachtet den Schulweg der Kinder in Tuqu‘, südlich von Bethlehem; Foto © EAPPI
Ökumenische Begleiterin beobachtet den Schulweg der Kinder in Tuqu‘, südlich von Bethlehem; Foto © EAPPI

Zwei israelische Soldaten haben sich auf Felsen am Hang postiert und beobachten gelangweilt die Schulkinder, die sich auf dem steinigen Pfad bergauf zu ihrer Schule bewegen; der dritte Soldat ist im Jeep am Straßenrand sitzen geblieben. Ein zweiter Jeep steht oben auf dem Parkplatz der Grundschule. Es ist ein kühler Wintermorgen und der vorhergesagte sonnige Tag lässt sich durch die feuchten Nebelfetzen nur erahnen. Wir stehen auf der anderen Straßenseite und haben die Wege im Blick, die zur Jungenschule auf der einen Hangseite und zur Mädchenschule und gemischten Grundschule auf der anderen Hangseite führen. In kleinen Gruppen kommen die Kinder aus verschiedenen Richtungen: Kleine Mädchen passieren uns schwatzend und kichernd, winken schüchtern zum Gruß, einige rufen uns ein verschmitztes „Sabach ilcher“ (Guten Morgen) zu und amüsieren sich über unsere (noch) nicht ganz akzentfreie Antwort. Die männlichen Teenies – zumeist mit modischer Undercut-Frisur – schlendern betont lässig an uns vorbei und stellen mit einem fließenden „Good Morning“ ihre Weltläufigkeit unter Beweis, die weiblichen – zumeist in Schuluniform und mit Kopftuch – unterstreichen ihre sprachliche Kompetenz mit der kühnen Frage „How are you?“. Der eine oder andere Lehrer bleibt für ein Schwätzchen stehen und bedankt sich für unsere Anwesenheit.

Ein Morgen wie jeder andere? Tuqu‘, ein Dorf südlich von Bethlehem, umgeben von Siedlungen, zeichnet sich durch eine hohe militärische Präsenz der israelischen Besatzungsmacht aus. Frühere Ökumenische Begleiter*innen haben berichtet, dass es immer wieder in den letzten Jahren zu Zusammenstößen gekommen ist – mit Siedlern, die Olivenbäume absägten, israelische Flaggen hissten oder Schüler*innen belästigten, und mit Soldaten, die in die Schulen eindrangen, um Lehrer oder Schüler wegen Steinwürfen zu verhaften oder zu vernehmen, und Häuser besetzten. UNO-Organisationen haben festgestellt, dass die Übergriffe von Siedlern auf Palästinenser*innen und ihr Eigentum 2018 um 77 % gegenüber 2017 zugenommen haben[1]. Seit Monaten nun stehen deshalb Teilnehmer*innen an dem Ökumenischen Begleitprogramm des Weltkirchenrates mehrmals in der Woche an der Wegkreuzung. Vielleicht hat die schützende Präsenz der Ökumenischen Begleiter*innen zumindest für einige Zeit dazu beigetragen, dass es etwas ruhiger geworden ist und sich die Kinder auf ihrem Schulweg etwas sicherer fühlen.

Der Ort Tuqu‘ liegt südlich von Bethlehem; Karte © UNOCHA-OPT
Der Ort Tuqu‘ liegt südlich von Bethlehem; Karte © UNOCHA-OPT

Es geht auf 8 Uhr zu. Die Kinder versammeln sich in Reih‘ und Glied im Schulhof für die morgendliche Ansprache und das gemeinsame Singen der palästinensischen Nationalhymne „Biladi, Biladi“. Da nähert sich auf der Straße ein Mann mit entschlossenen Schritten. Vor sich hält er offensichtlich sein Handy, um die Kollegin auf der anderen Straßenseite zu filmen. Er kommt immer näher heran. Dabei beschimpft er sie und bezichtigt sie illegaler Aktivitäten. Einige von uns meinen in ihm einen der Siedler zu erkennen, die auch an anderen Orten Ökumenische Begleiter*innen oder Vertreter*innen lokaler Menschenrechtsgruppen auf ähnliche Weise belästigten und ihre filmischen Produkte dann im Internet verbreiten, unterlegt mit Beschimpfungen und Vorwürfen gegenüber den portraitierten Gruppen. Geistesgegenwärtig erfasst auch unserer Fahrer, der abseits im Auto wartet, die Situation, braust heran, so dass wir schnell einsteigen und die unangenehme Begegnung beenden können.

Bei unserem Treffen mit anderen Nichtregierungsorganisationen (NGO) am nächsten Tag erzählen wir von unseren Erlebnissen. Es wird daraufhin von der neuen Plakataktion in den völkerrechtswidrigen jüdischen Siedlungen im Gush Etzion Block berichtet, einer der ältesten und größten Siedlungsblöcke südwestlich von Bethlehem und Jerusalem. Auf Plakaten werden die palästinensischen Arbeiter in den Siedlungen vor Kontakten und der Zusammenarbeit mit Menschenrechtsaktivist*innen oder -organisationen gewarnt. Bei Verstößen gegen dieses Kontaktverbot droht der Verlust des Arbeitsplatzes in der Siedlung[2]. Damit keine Missverständnisse auftauchen werden die Drohungen mit Fotos von einschlägig bekannten Aktivist*innen personalisiert. Nach Einschätzung der NGOs werden damit wohl mehrere Ziele verfolgt: Zum einen wollen die Siedler damit nicht nur Kritiker*innen der Besatzung einschüchtern[3], sondern auch die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen in den besetzten Gebieten erschweren; zum anderen wird dadurch ein Keil zwischen die Palästinenser und die Organisationen getrieben, so dass auf Dauer auch die schützende Präsenz israelischer, palästinensischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen in Frage gestellt wird. Angesichts der hohen – und steigenden – Arbeitslosigkeit von 18-19 % in der Westbank[4] und den Schwierigkeiten, eine Arbeitserlaubnis für Israel zu erreichen, bedeutet der Verlust einer Arbeitserlaubnis für die Siedlungen für viele der ca. 36.000 palästinensischen Arbeiter in den Siedlungen eine existenzielle Gefährdung des Lebensunterhalts.

Der unangenehme Vorfall löst natürlich Diskussionen über das Weitermachen aus. Wegen der deeskalierenden Wirkung unserer Anwesenheit an solchen spannungsgeladenen Orten beschließen wir, die Schulbesuche in Tuqu‘ fortzusetzen in der Hoffnung, dass der Siedler andere Motive für seine Videoaufnahmen findet. Aber auch das frühmorgendliche, gemischt arabisch-englische Tète-a-Tète mit den Kindern wollen wir nicht missen.

Christian, im Februar 2019

 Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

 

[1]     https://www.ochaopt.org/content/protection-civilians-report-15-28-january-2019

[2] https://972mag.com/settlers-palestinian-jobs-human-rights/139951/

[3]Vgl. dazu auch https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A61_ass.pdf

[4] http://documents.worldbank.org/curated/en/413851537281565349/pdf/129986-REVISED-World-Bank-Sept-2018-AHLC-Report-final.pdf, siehe S. 9

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