Sonnenaufgang am “agricultural gate”

Der Verlauf der Trennbarriere nördlich von Tulkarem. Die „agricultural gates“ sind mit grünen Kreuzen markiert. Karte © UNOCHA
Der Verlauf der Trennbarriere nördlich von Tulkarem. Die „agricultural gates“ sind mit grünen Kreuzen markiert. Karte © UNOCHA

In einem internationalen und altersgemischten Team von vier Frauen lebe ich nun schon seit vier Wochen in der Westbank, in Tulkarem. Wir sind von EAPPI hierher geschickt worden, um die Menschen in ihrem Alltag unter Besatzung zu unterstützen, mögliche Rechtsverletzungen zu dokumentieren und über das vor Ort Erlebte zu berichten. Eine unserer Hauptaufgaben ist es, durch unsere internationale Präsenz an den sogenannten „agricultural gates“ (Landwirtschaftscheckpoints) die Bauern in dem Recht auf Zugang zu ihren Grundstücken zu unterstützen. So stehen wir jeden Morgen um 6 Uhr auf und fahren zu den verschiedenen “agricultural gates”, die wir mit dem Auto ca. 5 bis 7 km südlich und nördlich von Tulkarem erreichen.

Die sogenannte „Green Line” („Grüne Linie“) ist die Waffenstillstandslinie von 1949 zwischen Jordanien und Israel. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 besetzte die israelische Armee u.a. die Gebiete jenseits der „Grünen Linie“ bis zum Jordan, die Westbank. Die Grüne Linie gilt heute als Grundlage einer Grenze zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat.

Nach einer Welle von palästinensischen Anschlägen und dem Ausbruch der Zweiten Intifada begann Israel 2002 mit dem Bau der Trennbarriere („separation barrier“). Nach UN-Angaben[1] sind etwa 65% der Trennbarriere fertiggestellt, 85% davon nicht unmittelbar auf der „Grünen Linien“ zwischen Israel und der Westbank, sondern z.T. tief innerhalb der Westbank. Daher urteilte 2004 der Internationale Gerichtshof, dass die Trennbarriere in den Bereichen, in denen sie nicht auf der Grünen Linie verläuft, illegal ist und abgebaut werden müsste[2].

Durch den Verlauf größtenteils innerhalb der Westbank  entstand die “Seam Zone”, der Bereich zwischen der tatsächlichen „Grünen Linie” und der Trennbarriere. Fast 10% der Westbank werden durch die Trennbarriere quasi „abgeschnitten“[3]. In der „Seam Zone“ befinden sich nicht nur etwa die Hälfte aller israelischen Siedlungen in der Westbank mit etwa 85% der gesamten Siedlungsbevölkerung[4], die nun quasi auf der „israelischen Seite“ der Trennbarriere leben. In der Seam Zone leben auch etwa 11.000 Palästinenser*innen in 32 Gemeinden (Stand 2013[5]), die Genehmigungen der israelischen Behörden benötigen, um weiterhin in ihren Häusern wohnen zu können, und die Checkpoints in die übrige Westbank und zurück in ihre Dörfer passieren müssen.

Darüber hinaus befinden sich in der Seam Zone vor allem landwirtschaftliche Flächen palästinensischer Bauern, die auf der anderen Seite der Trennbarriere leben. Diese Bauern sind nun von ihren Grundstücken getrennt. Einen beschränkten Zugang zu ihren Feldern und Gärten gibt es über die “agricultural gates”.

„Agricultural gate“ in Zeita, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI
„Agricultural gate“ in Zeita, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI

2016 gab es nach Angaben der UN 84 solcher landwirtschaftlichen Checkpoints, von denen 65 jedoch nur saisonal betrieben wurden, sprich zur Pflanz- und gar nur zur Erntezeit[6]. Nur 9 der „agricultural gates“ wurde 2016 2-3 Mal am Tag für 10-60 Minuten geöffnet. Ein Durchgang ist dazwischen auch im Notfall zumeist nicht möglich. Das Öffnen der „agricultural gates“ übernehmen israelische Soldaten. Die palästinensischen Bauern müssen Passagierschein bei der israelischen Militärverwaltung beantragen: für sich, für ihre Familienmitglieder, für ihren Traktor, Anhänger oder Esel. Auch ihre Helfer müssen einen solchen Passierschein (“permit”) haben. Sehr häufig werden die Anträge auf Passierscheine jedoch abgelehnt. Der limitierte Zugang und die Möglichkeit, jederzeit das „permit“ zu verlieren, stellen für die Bauern eine andauernde Herausforderung dar, und führen in der letzten Konsequenz zu schlechteren Erträgen oder Aufgabe der Flächen[7].

Bauern warten am „agricultural gate“ in Deir al-Ghussun, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI
Bauern warten am „agricultural gate“ in Deir al-Ghussun, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI

Jeden Morgen sehen wir einen Jeep mit 3 bis 5 zumeist noch sehr jungen Soldatinnen und Soldaten ankommen. Sie suchen zuerst die Gegend um das Tor herum nach gefährlichen Gegenständen ab und öffnen dann das Tor. Dann erteilen sie auf Hebräisch ihre Anweisungen: immer nur 3 Personen dürfen durch das Tor zum Checkpoint, um ihr ”permit” vorzulegen. Traktoren, Anhänger und die Satteltaschen der Esel werden durchsucht. Die Palästinenser*innen müssen durch einen Metalldetektor gehen oder werden, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, anderweitig körperlich kontrolliert.

Morgendlicher Kaffee am „agricultural gate“ in Attil; Foto © EAPPI
Morgendlicher Kaffee am „agricultural gate“ in Attil; Foto © EAPPI

Um 6 Uhr treffe ich Jalal am “gate” von Attil. Wenn wir mit dem Auto ankommen, sitzen die Männer wartend  im Gras oder schlafen unter den Olivenbäumen. Da das “gate” nur 30 – 45 Minuten geöffnet ist wollen sie rechtzeitig da sein und den Durchgang nicht verpassen. Sie werden zum Teil mit privaten PKWs gebracht. Ein fliegender Händler bietet Kaffee und Frühstück an.  Jalal besitzt eine Farm und hat Leute, die für ihn arbeiten. Er ist die Ansprechperson für die Bauern, aber auch für die Soldat*innen, die am “gate” die Kontrollen durchführen. Er spricht Arabisch, Hebräisch und  Englisch. Er sorgt dafür, dass sich die jungen Helfer rechtzeitig anstellen und ihr “permit” dabei haben. Er weiß auch, wenn jemand noch nicht erschienen ist und bittet dann darum, dass das “gate” noch ein paar Minuten länger geöffnet bleibt. Manchmal funktioniert das, aber leider nicht immer.

Heute Morgen nimmt sich Jalal Zeit, um mit mir zu sprechen und zeigt mir sein Handy, auf dem der Kalender  zu sehen ist mit den geplanten Öffnungszeiten des „gates“. Diese können sich jede Woche ändern. Z.B. hängen die Öffnungszeiten auch davon ab, ob jüdische Feiertage sind. Dann kann ein „gate“ auch mal geschlossen bleiben.

Am „Agricultural gate“ in Nazlat Isa, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI
Am „Agricultural gate“ in Nazlat Isa, nördlich von Tulkarem; Foto © EAPPI

Spätestens um 8 Uhr ist unsere Aufgabe an den „agricultural gates“ erledigt. Die Sonne ist aufgegangen und wir haben einen schönen Blick auf die Felder und Gewächshäuser. Ohne die Auswirkungen der Besatzung könnte vieles hier sehr beschaulich sein.

Erika, im Oktober 2018

 

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

 

[1] https://www.ochaopt.org/theme/west-bank-barrier

[2] https://www.ochaopt.org/sites/default/files/ocha_opt_barrier_factsheet_july_2013_english.pdf

[3] ebenda

[4] ebenda

[5] ebenda

[6] https://www.ochaopt.org/content/impact-barrier-agricultural-productivity

[7] https://www.ochaopt.org/sites/default/files/ocha_opt_barrier_factsheet_july_2013_english.pdf

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