Sie warten noch immer auf Rückkehr

Jihad (Bildmitte) bei der Führung durch das Flüchtlingslager; © EAPPI
Jihad (Bildmitte) bei der Führung durch
das Flüchtlingslager; © EAPPI

Jihad lautet der Name jenes Mannes, der uns durch das Refugee Camp Duheisha führt. Sein eigener Name dient ihm als warnende Botschaft vor leichtfertigen Verurteilungen und stereotypem Schwarz-Weiß-Denken: Jihad kann religiöses Streben oder religiösen Kampf im militärischen Sinne bedeuten. In den letzten Jahren ist der Begriff „Jihad“ als „Heiliger Krieg“ vor allem im Zusammenhang mit den Gewalttaten des IS bekannt geworden. Dabei ist es nur ein Name, führt Jihad, der aus einer wenig religiösen, vielmehr kommunistischen Familie stammt, aus – quasi eine nicht selbst gewählte Bezeichnung, die genauso wenig über ihn als Person aussagt, wie die häufig von ihm wahrgenommene Fremdbezeichnung als ‚Terroristen‘ auf alle Palästinenser*innen zutrifft. „Alles“, so appelliert er an unsere Runde, „kommt auf die Perspektive an.“ Er bittet uns, uns ein eigenes Bild vom Konflikt und von dem zu machen, was die Menschen in Duheisha durch die Besatzung erleben.

UN-Resolution 194 beinhaltet das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, die während des israelischen Unabhängigkeitskriegs flüchteten oder vertrieben wurden; © EAPPI
UN-Resolution 194 beinhaltet das
Rückkehrrecht der palästinensischen
Flüchtlinge, die während des
israelischen Unabhängigkeitskriegs
flüchteten oder vertrieben wurden; ©
EAPPI

Duheisha ist neben Aida und Al-Azza eines von drei Flüchtlingslagern im Großraum Bethlehem. Es entstand 1949 auf nur 0,31 Quadratkilometern Land als vorübergehende Heimat für 3.400 Palästinenser*innen, die im Zuge des Krieges aus 45 Dörfern in Jerusalem und Hebron fliehen mussten. Heute, 70 Jahre später, existiert das Lager noch immer – größer denn je: Durch natürliches Bevölkerungswachstum ist die Einwohnerzahl auf etwa 15.000 Menschen angestiegen und die Fläche auf ein bis eineinhalb Quadratkilometer angewachsen. Die provisorischen Zelte sind schon lange gemauerten Häusern gewichen. Dennoch warten die Einwohner noch immer auf ihre Rückkehr.

Durch Duheisha zu gehen ist bedrückend. Die Gassen zwischen den Häusern sind schmal; dicht an dicht leben die Menschen zusammen. „Privatsphäre gibt es hier nicht“ erklärt uns Jihad. „Jeder bekommt von seinen Nachbarn alles – ausnahmslos alles – mit, ob man will oder nicht. Das einzig Gute daran ist, dass man riecht, wenn jemand etwas Leckeres kocht.“ Grünanlagen, Freiflächen für Freizeit oder Spielplätze sucht man hier vergeblich. Rund 60 Prozent der Einwohner sind Kinder, doch Plätze zum Spielen und Toben fehlen: „Es gibt keinen Raum für Kindheit in Duheisha“ bringt Jihad dies auf den Punkt.

Enge Gassen im Duheishe Refugee Camp © EAPPI
Enge Gassen im Duheishe Refugee
Camp © EAPPI

Er hat das selbst erlebt. Wie so viele andere wurde er im Lager geboren und hat sein ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Dank UNRWA gibt es eine Schule im Lager. Die Kapazitäten sind jedoch begrenzt, so dass nur etwa 3.000 der 8.000 Kinder dort einen Platz haben. Die Klassenräume sind überfüllt. Etwa 45 bis 50 Schüler*innen, schätzt Jihad, werden gemeinsam in einem Raum unterrichtet. Die anderen 5.000 Kinder gehen in staatliche oder private Schulen außerhalb des Flüchtlingslagers.

Organisationen wie das Ibdaa Cultural Center versuchen Lücken zu füllen und insbesondere für die Kinder eine positivere Atmosphäre zu schaffen. Es gibt Gruppen für Gesang, Theater und Tanz, Sportangebote wie Fußball und Basketball, eine Kinderkrippe und einen Kindergarten. Für Frauen gibt es ein Women Center und einen Nähraum, wo sie Taschen und Kleider nähen und besticken, um das Einkommen der Familien aufzubessern. Ein Gesundheitszentrum bietet einmal in der Woche kostenlose Behandlungen; dessen Diabetic Club ist Anlaufstelle bei Diabetes, die Community Eye Clinic für augenärztliche Versorgung. Die Mitarbeiter des Ibdaa Center versuchen zu unterstützen, wo es möglich ist. Jihad selbst arbeitet dort ehrenamtlich, motiviert von dem Wunsch, dass nachfolgende Generationen eine bessere Kindheit haben als er selbst im Lager hatte. Er möchte jungen Menschen neue Perspektiven und bessere Möglichkeiten geben. „Theater etwa“ erklärt er mir, „kann eine Art des Widerstands sein und Resilienz erzeugen.“ Die psychische Last die, die Besatzung mit sich bringt, können sie den Menschen im Aida Camp dennoch nicht gänzlich nehmen.

Das Duheishe Refugee Camp © EAPPI
Das Duheishe Refugee Camp © EAPPI

Es ist nicht nur die Enge, die für Frust und Hoffnungslosigkeit sorgt: Mehrmals in der Woche ist das Camp Ziel von nächtlichen Razzien und Verhaftungen durch das israelische Militär. Zuletzt gab es eine solche Razzia vor zwei Tagen, berichtet uns Jihad und erklärt, wie diese Militäraktionen ablaufen: Die Soldaten kommen nach Mitternacht, meist zwischen 2 Uhr und 4 Uhr morgens. Manchmal lautstark, so dass alle umliegenden Häuser wach werden; manchmal werden die Türen zum gesuchten Haus lautlos mit Druck geöffnet, so dass anschließend der Schock durch die plötzlich im Schlafzimmer stehenden Soldaten noch tiefer sitzt. Obwohl die

Einwohner von Duheisha ein ausgeklügeltes System entwickelt haben, sich über eine Walkie-Talkie-App gegenseitig vor anrückendem Militär zu warnen, gelingt dies nicht immer.

Es sind mehrheitlich Jungen und junge Männer, die inmitten der Nacht verhaftet werden. Meist wird ihnen das Werfen von Steinen vorgeworfen bzw. ‚politischer Aktivismus’, worunter, so erklärt mir Jihad, jegliche Art von Widerstand gegen die Besatzung fällt.[1] Mit verbundenen Augen und Handschellen werden sie umzingelt von einer Vielzahl an Uniformierten abgeführt. Wohin wird ihnen nicht gesagt.

Jihad hat dieses Prozedere bereits mehrfach selbst erlebt, erzählt er mir bei einem späteren Gespräch. 13mal ist er insgesamt verhaftet worden, für ein-zwei Tage, ein-zwei Wochen bis zu einem Monat – zum ersten Mal mit 19 Jahren. Meist wurde er verhört wegen des Vorwurfs, „politisch aktiv“ zu sein, ohne nähere Erklärung, was ihm genau unterstellt wird; andere Male wurde er zu seinen Brüdern oder anderen Bewohnern des Camps befragt. Er wurde geschlagen, bespuckt, beleidigt und musste sich entkleiden. Seine fünf Brüder haben ähnliches erlebt, einschließlich langer Inhaftierungen. Seine Mutter bezeichnet er als ‚Fels‘ und bewundert sie dafür, wie viel Sorgen sie schon ausgehalten hat.

Ob er das Lager verlassen würde, wenn er die Chance dazu hätte, frage ich ihn. Nein, er würde bleiben, antwortet er mir. Manchmal habe er schon über eine andere Staatsbürgerschaft nachgedacht, diese würde er jedoch nur nutzen, um sich Phase der Erholung und Erleichterung zu ermöglichen.

An vielen Häusern finden sich Portraits von inhaftierten oder getöteten Bewohnern des Camps © EAPPI
An vielen Häusern finden sich Portraits von
inhaftierten oder getöteten Bewohnern des Camps © EAPPI

Während wir die Gassen entlanglaufen, fällt auf, dass die Häuser mit Bildern und Namen von getöteten und inhaftierten jungen Männern übersät sind. Kaum ein Haus, dessen Wände nicht als Erinnerungsstätte und Mahnmal dienen. 2017 hat es vier Tote im Lager gegeben, 70 seit Gründung des Camps. 80 Personen seien bei Einsätzen der israelischen Armee in Duheisha 2017 in die Knie geschossen, erzählt Jihad[2]. Erst im Januar habe das Militär bei einem morgendlichen Einsatz im Camp zehn Kinder mit Gummimantelgeschossen und scharfer Munition beschossen. Ein Junge sei von einer Kugel ins Rückenmark getroffen, er ist seitdem querschnittsgelähmt. Jihad seufzt, als er das alles berichtet. Wen wundert es, fragt er uns, dass angesichts all dieser Umstände in Duheisha Teenager aus Wut und Ohnmacht zu Steinen greifen, selbst wenn er und andere versuchen, Alternativen aufzuzeigen.

Die Führungen durch das Camp macht Jihad nicht für Geld, sondern aus Idealismus.[3] Es liegt ihm sehr am Herzen, das Wissen über das Leben unter israelischer Besatzung zu verbreiten  und Vorurteilen gegenüber Palästinenser*innen entgegenzuwirken. Mehrmals war Jihad bereits im Ausland auf Reisen, um von der Situation der Palästinenser*innen zu berichten. Das Reisen tut ihm gut, sagt er. Sein größter Wunsch ist es jedoch Haifa, Jaffa und Jerusalem zu besuchen. Doch aufgrund seiner eigenen Verhaftungen und der seiner Brüder ist es ihm nicht gestattet, Israel und Ost-Jerusalem zu betreten –  erst 2346 werde seine Sperre aufgehoben, teilte ihm das Militär mit. Er hofft, dass dieser Traum dennoch eines Tages in Erfüllung geht.

„Was ist die beste Hilfe die ihr bekommt jenseits der UN?“ fragt ein Teilnehmer der Führung. „Ihr, das seid ihr.“ antwortet Jihad. „Wir brauchen eure Solidarität. Ihr seid unsere Propheten und Boten – wir brauchen eure Solidarität um diesen Konflikt zu beenden.“

Sanya, April 2018

[1] Weiterführende Informationen zu Verhaftungen und Militärgerichtsbarkeit finden sich auf den Websites von Defence for Children International Palestine und Military Court Watch.

[2] https://www.haaretz.com/israel-news/is-the-idf-conducting-a-kneecapping-campaign-in-the-west-bank-1.5429695

[3] Jihads Führungen sind kostenlos. Wer möchte kann am Ende eine Spende für das Center hinterlassen und/oder handgemachte Taschen von Frauen aus dem Center kaufen.

 

 

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