„Self Demolition“

Als wir den von Mauern umschlossenen Hof der Familie Abu Tayeh im Ost-Jerusalemer Stadtteil Silwan betreten, wundere ich mich über eine ganze Reihe von Türen und Fenstern, die an der Mauer im Hof lehnen – sie scheinen neu und von guter Qualität zu sein, so, als warteten sie darauf, irgendwo eingebaut zu werden.

Die Fenster und Türen wurden allerdings aus- und nicht eingebaut. Ein Anruf unseres Fahrers hatte uns kurz zuvor informiert: “A self-demolition took place in Silwan this morning“. Ein Bekannter der Familie hat um unseren Besuch gebeten. Er übersetzt für uns, als wir drei EAs vom Vater, von der Mutter, dem Schwiegersohn und einigen Kindern im Hof begrüßt werden. Stühle werden herbeigeholt und mitten im Hof um einen alten Herd herum gruppiert.

Der Anblick des in Trümmern liegenden Anbaus des Hauses scheint jedoch zu verbieten, dass man sich erst einmal hinsetzt, um Höflichkeiten auszutauschen. Wir betrachten das Haus, in dem Vater und Mutter mit vier ihrer teilweise erwachsenen Kinder leben. Es macht einen sehr soliden und guten Eindruck. Dann aber fällt der Blick auf den frisch verputzten Anbau, in dessen Wänden riesige Löcher klaffen. Auch die Decke hat ein riesiges Loch, es gibt keine Türen mehr zwischen den drei Räumen und der Boden ist mit Bauschutt bedeckt –  tragende Teile stehen noch.

Wo noch vor kurzem eine 6köpfige Familie wohnte liegt nun alles in Trümmern; Foto © EAPPI
Wo noch vor kurzem eine 6köpfige Familie wohnte liegt nun alles in Trümmern; Foto © EAPPI

Der Anbau war bis gestern das Heim der ältesten Tochter, die mit Ihrem Mann und vier Kindern darin lebte. Der Schwiegersohn verdient seit zehn Jahren in einer israelischen Hafenstadt sein Geld, so dass sie sich diesen Anbau leisten konnten. Vor vier Jahren, kurz nachdem sie das Gebäude fertiggestellt hatten, erhielten sie eine „demolition order“ – eine Abrissverfügung. Mit der Verfügung wurde eine Frist gesetzt, bis zu der die Familie den Anbau selbst zerstören muss, andernfalls würde die Stadtverwaltung den Abriss in Auftrag geben. Heute ist die für den Abriss gewährte Frist abgelaufen.

So hat der junge Mann heute Morgen mit eigenen Händen zerstört, was er vor vier Jahren aufgebaut hat. „Self demolition“ nennt man das – die Familie hat diesen Weg gewählt, weil für den Abriss durch ein von der Stadt beauftragtes Unternehmen mindestens 10.000 Schekel zu zahlen wären. „And they bring really big bulldozers“,  da könnte das Tor, der sauber betonierte Hof und unter Umständen auch das Haus der Eltern noch erheblichen Schaden nehmen. Selbstzerstörung zur Schadensbegrenzung!

Nur die tragenden Teile halten den Anbau noch zusammen; Foto © EAPPI
Nur die tragenden Teile halten den Anbau noch zusammen; Foto © EAPPI

Bis gestern hatte die Familie gehofft, sie könnten dem Abriss entgehen – vielleicht so wie 1992, als sie mit Hilfe eines Anwaltes vor Gericht die Aussetzung der Abrissverfügung für das elterliche Haus gegen die Zahlung von 55.000 Schekel erreichen konnten. Aber die Zeiten haben sich geändert.

Sie berichten, dass der Anwalt erst für Mitte März einen Verhandlungstermin erreichen konnte. Und deshalb haben sie heute, um die Zerstörung durch die Stadtverwaltung zu verhindern, mit der „Self demolition“ begonnen und umgehend Fotos vom Teilabriss an die Stadtverwaltung geschickt. Während wir noch Fragen stellen kommt die Antwort per mail: der bisherige Abriss sei nicht ausreichend – sie werden die Zerstörung morgen fortsetzen müssen.

Wir sitzen inzwischen im Hof um den Ofen herum im Hof – die Mutter bringt arabischen Kaffee, der junge Mann erzählt, dass er die vergangene Nacht draußen an diesem Ofen verbracht hat; er habe geweint und nicht schlafen können. Er steht auf und holt schmale längliche Bretter, es scheinen Teile der Türrahmen zu sein, er zertritt sie und befeuert mit den Stücken den Ofen.

Ob sich die „Self demolition“ auf das Gebäude beschränken wird? Ob daraus eine „Selbstzerstörung“ im wahrsten Sinne des Wortes für die betroffenen Menschen werden kann?

Die Bewohner der palästinensischen Stadteile von Ost-Jerusalem haben geringe Aussichten auf die Genehmigung von Bauvorhaben. Nur etwa 15% der Fläche Ost-Jerusalems (8,5% der Gesamtfläche Jerusalems) ist für palästinensische Bauvorhaben ausgezeichnet, und das, obwohl die Palästinenser etwa 40% der Gesamtbevölkerung Jerusalems ausmachen[1]. Aufgrund mangelnder Stadtplanung für diese Gebiete können in vielen Bereichen keine Baugenehmigungen beantragt werden, bzw. werden Anträge häufig angelehnt. Angesichts wachsender Familien führt dies zum Bauen ohne Genehmigung, was wiederum eine Zerstörungsanordnung nach sich zieht. Etwa 20.000 palästinensische Wohneinheiten wurden ohne Genehmigung errichtet. Seit 2004 zerstörte die Stadtverwaltung davon über 800, über 100 Apartments oder Häuser wurden von den Eigentümern selbst zerstört[2].

Christa, Februar 2019

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Meine Berichte und Stellungnahmen geben nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.btselem.org/jerusalem

[2] https://www.btselem.org/planning_and_building/east_jerusalem_statistics

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