Schulbesuch – In Tuqu’ und Al Minya eine ganz besondere Herausforderung

Eine der Hauptaufgaben der EAPPI-Teams in Bethlehem besteht in der schützenden Präsenz auf Schulwegen und an Schulen und der Dokumentation von Zwischenfällen, die sich dort ereignen. Dafür fahren die Ökumenischen Begleiter:innen regelmäßig in die Orte Tuqu’ und Al Minya, südlich von Bethlehem. Für drei Monate war die Schulwegbegleitung auch Teil meiner Aufgaben.

Vor Beginn des Unterrichts versammeln sich Schüler- und Lehrerschaft zum Singen der Nationalhymne; © WCC-EAPPI/Dorothee

In Tuqu’ waren wir an zwei Schulkomplexen präsent: Zum einen an den unmittelbar nebeneinander liegenden Schulen Aljurmagh and Alkansa, zum anderen an der Tuqu’ Secondary Boys School. Beide befinden sich auf halber Höhe zweier sich gegenüberliegender Hügel etwa 300 m Luftlinie voneinander entfernt. Dazwischen liegt eine stark befahrene Straße, an der fast alle Schüler:innen entlanggehen müssen, sowie ein Olivenhain, durch den ein Weg zur Boys School führt. Knapp 1.000 Mädchen und Jungen besuchen die Schulen in Tuqu‘. Ca. 5 km südlich befindet sich die Schule von Al Minya, die von etwa 220 Jungen und Mädchen im Alter von 7–14 Jahren besucht wird.

Der Schulbesuch ist für die Kinder dieser Schulen aus verschiedenen Gründen besonders schwierig: Der Schulweg führt an der enorm befahrenen Straße 356 entlang, auf der auch viele Busse und LKW unterwegs sind, deren Fahrer – so meine Wahrnehmung – häufig keine Rücksicht auf die am Straßenrand entlanglaufenden Schüler:innen nehmen. Hinzu kommt, dass viele Siedler:innen aus den Siedlungen Tekoa, Ma’ale Amos und Ibei Hanahal die Straße nutzen. Wiederholt erleben wir, dass Siedler versuchen, Kinder, Schulpersonal oder uns EAs zu schikanieren oder einzuschüchtern. Am schwersten wiegt aber sicherlich die außergewöhnlich starke israelische Militärpräsenz.

Für mich gehört der „school run“ in Al Minya zu den Aufgaben, die ich besonders mag. Schüler- wie Lehrerschaft sind uns gegenüber völlig aufgeschlossen. Kaum betreten wir das Schulgelände, wird uns arabischer Kaffee angeboten, und während wir diesen trinken informieren uns Schulleiter Hani und ganz besonders Englischlehrerin Mirvat über die neuesten Ereignisse in der Schule. Dies sind zum Glück nicht nur belastende Nachrichten, es geht auch um Erfreuliches wie die guten Prüfungsergebnisse der Schüler:innen, mit denen Mirvat außerordentlich zufrieden ist, oder um die Verschönerung des Schulgebäudes mit einem neuen Wandgemälde.

Zwischen 7:30 und 7:45 Uhr treffen die Schüler:innen ein und begrüßen uns freudig. Etliche Kinder bleiben am Schultor stehen, wo wir uns als internationale Präsenz in der Regel aufhalten. In den ersten Tagen unseres Einsatzes bestürmten sie uns noch mit Fragen: „What’s your name?“, „Where are you from?“, „How old are you?“. Nachdem sie mit uns vertrauter sind, zeigen sie uns stolz ihre Hefte, zählen uns auf Englisch vor, nennen unserer in Korea geborenen Kollegin einige koreanische Vokabeln oder präsentieren uns ihre Schätze wie Haarspangen, Papierflieger oder einen neuen Schulranzen. Sind wir einmal nicht da, wie z.B. während unseres Zwischenseminars oder an Weihnachten, fragen sie die Lehrer:innen nach unserem Verbleib. Ich bin gerne bei den Kindern. Ganz besonders ins Herz geschlossen habe ich die Mädchen der Unterstufe, die uns mit großen braunen Augen vertrauensvoll ansehen.

Schülerinnen und Schüler aus Al Minya passieren auf dem Nachhauseweg israelische Soldaten; © WCC-EAPPI/Dorothee

Mir ist es ein absolutes Rätsel, warum diese Kinder seitens der Armee und der Siedler immer wieder in Angst und Schrecken versetzt werden, sei es durch deren reine Präsenz, sei es durch Maschinengewehre oder alle erdenklichen Arten von Schikane. Dass Angst zum Alltag der Kinder gehört, verstehen wir im Laufe unseres Einsatzes immer besser. Und leider müssen wir auch eine zunehmende Militärpräsenz und einen Anstieg der Vorfälle feststellen. Zu Einsatzzeiten unseres Vorgängerteams gab es noch einzelne Tage, an denen kein Militär in der Nähe der Schulen präsent war. Während unserer Zeit beobachten, mit einer Ausnahme, Soldat:innen an allen Tagen die Schulen.

Bis in den Herbst hinein parkte in der Regel ein Jeep mit vier Soldat:innen direkt gegenüber dem straßenseitigen Eingang zur Schule in Al Minya, keine zehn Meter von der Stelle entfernt, an der wir EAs uns üblicherweise aufhielten. Weitere Soldat:innen waren etwas weiter entfernt auf einem Feld unter Olivenbäumen stationiert. Seit Anfang Dezember stehen dann zwei mit jeweils vier Soldat:innen besetzte Jeeps auf dem Seitenstreifen. Und als wir nach zweitägiger Weihnachtspause wieder zur Schule kommen, finden wir links und rechts der Straße neu gebaute und mit jeweils einem Soldaten besetzte feste Wachposten vor.

Soldaten haben die Zufahrtsstraße zur Secondary Boys School in Tuqu‘ abgeriegelt; © M.A.

Das Verhalten der Soldat:innen ist sehr unterschiedlich. Manche bleiben im Jeep sitzen oder stehen rauchend daneben und unterhalten sich. Andere beobachten uns und die Kinder. Immer mal wieder aber legen es einzelne darauf an, die Kinder zu verängstigen. Im harmlosen Fall wird eine Zigarettenkippe auf die Kinder geworfen oder der Jeep so geparkt, dass die Kinder nicht passieren können, ohne die verkehrsreiche Straße betreten zu müssen. Beobachtet haben wir auch, wie Soldaten mit ihren Gewehren auf Kinder zielten.

In Tuqu’ sind stets mehrere Soldat:innen im Olivenhain zwischen den beiden Schulen positioniert. Ein Militärjeep mit vier Soldat:innen steht nahezu schultäglich auf einem Feldweg direkt gegenüber der Schulen Aljurmagh and Alkansa. Immer wieder und meist ohne, dass wir den Grund erfahren können, wird die Zufahrtsstraße zur Boys School, die zugleich den südlichen Zugang zum Ortskern von Tuqu’ bildet, durch ein Sperrgitter und/oder Militärfahrzeuge abgeriegelt.

Kritisch wird es in Tuqu’ Anfang Dezember. Nachdem es zu Auseinandersetzungen zwischen Jungen und dem Militär gekommen war, dringen Soldaten in das Dorf ein und sperren für drei Tage den Südzugang und für einen Tag auch die nördliche Einfahrt in den Ort. Einige Male fahren wir an dem abgeriegelten Ort vorbei. Später wird uns berichtet, dass die Armee wohl über 1.000 Gummimantelgeschosse und zahlreiche Tränengaskanister in dieser Zeit abgefeuert habe, ein solches Vorgehen habe das Dorf seit vielen Jahren nicht erlebt.

Aber auch jenseits solcher Ausnahmesituationen verläuft der Alltag in Tuqu’ alles andere als entspannt. In den drei Monaten unseres Aufenthaltes müssen wir zehn Zwischenfälle an den Schulen von Tuqu’ dokumentieren. Vom Lehrpersonal wird uns berichtet, dass Soldaten mehrere Male Schüsse in die Luft gefeuert, mit Gummigeschossen in Richtung der Schüler:innen geschossen oder Rauchbomben gezündet hätten. Im Januar werden wir zweimal darüber informiert, dass Jungen verhaftet wurden. In den allermeisten Fällen wird den von Verhaftung betroffenen Jugendlichen das Werfen von Steinen vorgeworfen, das bei einer Verurteilung durch das Militärgericht mit einer maximalen Haft von 20 Jahren bestraft werden kann.[1]

Schülerinnen an der Schule von Al Minya; © WCC-EAPPI/Dorothee

Ähnlich wie in Tuqu’ ist die Lage in Al Minya Anfang Dezember besonders kritisch. Wir werden benachrichtigt, dass Soldaten ohne erkennbaren Grund mit scharfer Munition in die Luft schießen und Knallgranaten zünden würden. Die Kinder seien so verschreckt, dass an einen normalen Unterricht nicht zu denken ist. Wir beschließen deshalb, an diesem Tag auch zum Schulende vor Ort zu sein und sehen, wie die Kinder nach dem Klingelzeichen aus der Schule stürmen, während die Lehrer vor dem Schultor an der Straße eine Art Schutzwall bilden. Innerhalb von fünf Minuten ist das Schulgelände wie leergefegt.

Ein paar Tage später spreche ich mit der Englischlehrerin Mirvat, die sich viele Gedanken über die Situation ihrer Schützlinge an der Schule macht. Sie sagt, dass die meisten Kinder verängstigt sind durch die tägliche Anwesenheit der Soldat:innen, besonders, wenn diese Tränengas und Knallgranaten schießen. Sie machten sich ständig Sorgen. Auch an relativ ruhigen Tagen hätten viele Kinder Angst, dass die Soldat:innen aus dem geringsten Anlass auf sie losgehen oder gar auf sie schießen könnten. Selbst im Klassenzimmer fühlten sich nicht hundertprozentig sicher. Dennoch, so Mirvat, gibt es kaum Schüler:innen, die der Schule fernbleiben. Trotz aller Verunsicherung und Angst, so sagt sie, wollen die Kinder unbedingt zur Schule kommen, wollen lernen und spielen. Sie wollen sich ihr Recht auf Bildung nicht nehmen lassen.

Dorothee, im Februar 2023

Ich habe für das Berliner Missionswerk am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teilgenommen. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des Berliner Missionswerks oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.savethechildren.net/blog/what-it-means-be-palestinian-child-israeli-prison-coronavirus-times

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