Samia – Zukunftsvisionen einer Lehrerin aus Hebron

Teil 4 der Portraitreihe: Unter Besatzung – Palästinensische und israelische Alltagsstimmen

EAs begleiten Kinder auf dem Weg zur Cordoba Schule
EAs begleiten Kinder auf dem Weg zur Cordoba Schule

Eigentlich ist es wie überall auf der Welt: morgens schauen die Jungen und Mädchen mit ihren riesigen Rücksäcken uns EAs nur missmutig an oder ignorieren unser „Sabah al-chier“ (Guten Morgen) sogar gänzlich. Mittags jedoch sind sie alle froh, dass die Schule endlich vorbei ist und sie sind super aufgedreht. Plötzlich sind sie zu freundlichen, schüchternen Unterhaltungen aufgelegt, in denen sie stolz ihre Englischkenntnisse präsentieren. Oder sie machen sich frech Späße mit uns und reizen ihre Grenzen aus. Dafür braucht man nicht einmal Englisch. Und doch ist alles in Hebron so anders, als ich es beispielsweise von meinem Schulweg her kenne. Jeden Morgen und jeden Mittag passieren diese etwa vier- bis 17jährigen Kindergarten- und Schulkinder mehrere israelische Soldat*innen, die mit Maschinengewehren bewaffnet sind. Einige wenige von ihnen müssen sogar durch den Metalldetektor des Checkpoints laufen. Mindestens ein Militärjeep patrouilliert auf ihrem Schulweg.

Samia Al-Jabary, Lehrerin in Hebron
Samia Al-Jabary, Lehrerin in Hebron

Für Samia ist nicht nur unsere ‚schützende Anwesenheit‘ von Bedeutung für die Schulkinder der Cordoba Schule in H2, dem israelisch kontrollierten Bereich Hebrons, sondern unser Austausch mit ihnen, so klein er auch sein mag. „Ich möchte, dass diese Kinder zu weltoffenen Menschen heranwachsen, trotz allem.“ Samia Al-Jabary ist in Hebron geboren und aufgewachsen. Sie hat an der Hebron Universität Arabische Sprache und Literatur studiert und 1998 ihren Bachelorabschluss gemacht. Seit 12 Jahren arbeitet sie nun als Lehrerin und war schon an vielen verschiedenen Schulen in Hebron und der Umgebung tätig, drei davon lagen im abgeschlossenen H2-Bereich. „Aber die Cordoba-Schule war die schlimmste Erfahrung! Probleme mit Soldat*innen gibt es fast überall, aber die reagieren hauptsächlich, beispielsweise wenn Kinder Steine werfen. Doch für die Cordoba Schule ist das große Problem die Präsenz der Siedler*innen. Die kommen ohne Vorwarnung und Grund und machen Ärger“.

Die Cordoba Schule liegt direkt gegenüber einer illegalen, jüdischen Siedlung. Die Siedler*innen in Hebron sind dafür bekannt, besonders ideologisch motiviert und gewaltbereit zu sein. Die für ihre Übergriffigkeit bekannte Anat Cohen zum Beispiel schlug während meiner Anwesenheit einem etwa 12-jährigen Jungen ins Gesicht. Er half gerade mit anderen Jungen einem Lieferanten, Getränke und Lebensmittel eine alte und schlecht erhaltene Treppe mit riesigen, kaputten Stufen – dem einzigen Zugang zur Schule – nach oben zu tragen, dabei haben sie ausgelassen geschwatzt und gelacht. Doch palästinensische Kinder und internationale Beobachter*innen erregen schnell Anat Cohens Zorn und dann geht sie auf diese los, während Polizei und Militär nur ratlos daneben stehen. Das Ziel dieser Siedler*innen ist es, Hebron und das gesamte „Heilige Land“ für sich zu haben. „Sie haben uns das auch direkt ins Gesicht gesagt: Das ist unser Land, verschwindet endlich!“, so berichtet es Samia al-Jabary. „Unter Besatzung ist es sehr schwer Schüler*in, Lehrer*in oder Schuldirektor*in zu sein. Wir leiden täglich, täglich, täglich“

Schüler*innen auf der Treppe zur Cordoba Schule, gegenüber die Siedlung Beit Hadassah
Schüler*innen auf der Treppe zur Cordoba Schule, gegenüber die Siedlung Beit Hadassah

Nicht immer sind es tätliche Angriffe der Siedler*innen, oftmals zeige es sich die Gewalt durch tägliche Schikanen, wie lange und unnötige Wartezeiten an den Checkpoints, Taschen- und Körperuntersuchungen und die generellen willkürlichen Machtdemonstrationen. So ist es vorgekommen, dass die Cordoba Schule schließen musste aufgrund eines jüdischen Feiertags; ein anderes Mal musste die Schule grundlos an einem wichtigen Prüfungstag schließen. „Es reicht nicht, das Land und die menschlichen ‚Körper‘ darin zu besetzen. Für eine erfolgreiche Besatzung musst du vor allem den Geist der Menschen besetzen. Und das machen sie durch diese kontinuierliche Anspannung. Jederzeit könnte etwas Schlimmes passieren: Jederzeit könnte das Militär die Schule stürmen, versuchen ein Kind zu verhaften oder die Direktorin zwingen, die Schule kurzfristig zu schließen“. Wie soll man in dieser Atmosphäre aus Angst, Anspannung und Feindseligkeit lernen und zu selbstbewussten, weltoffenen jungen Erwachsenen heranwachsen?

So ist es nicht verwunderlich, berichtet mir Samia, dass die Besatzung fatale Auswirkungen auf den Bildungsbereich habe: „Das schlimmste an der Besatzung ist ihr Ergebnis: Ein Berg an schlechter Bildung in Palästina!“ Dabei ziehe sich dies bereits durch mehrere Generationen und Samia könne das Ergebnis zum einen bei ihren eigenen Schüler*innen erkennen, bei den neuen Lehrer*innen, die bereits unter Besatzung zu Schule und Universität gegangen sind, und bei den Eltern ihrer Schulkinder, die aus verschiedenen Gründen ihre Bildung frühzeitig abbrechen mussten. „Deshalb versuche ich meine Schüler*innen besonders zu motivieren und zu fördern. Sie können trotz der Besatzung so viel tun, sie sind nicht schwach! Und weil sie zu mir aufschauen und Vertrauen zu mir haben, diene ich selbst als Vorbild. Auch ich bin unter Besatzung zur Schule gegangen und heute bin ich eine gute Lehrerin“.

EA mit Schulkindern auf der Shuhada Street
EA mit Schulkindern auf der Shuhada Street

Dabei geht es ihr nicht nur darum, ihnen Wissen zu vermitteln, sie möchte auch ihre Charaktere bilden. „Der Klassenraum ist ihre Bühne. Hier können sie alles fragen und ich möchte, dass sie über alles diskutieren. Vielleicht weiß ich nicht jede Antwort, aber dann kann ich es nachschlagen“. Auch der Austausch mit den internationalen Beobachter*innen trage zu dieser Charakterbildung und zu Weltoffenheit bei. Zudem biete es den Kindern und Jugendlichen die Chance, ihr Englisch zu verbessern. Dabei ginge es nicht um die richtige Grammatik, sondern alleine ums Sprechen. „Besonders die Kinder und Jugendlichen aus der Shuhada Straße und Tel Rumeida (derzeit vollkommen abgeriegelt und zur militärischen Sperrzone erklärt, Stand November 2015) leben in solch einer speziellen Situation, sie müssen darüber sprechen. Und zwar nicht durch einen Übersetzer oder eine Übersetzerin. Sie müssen lernen für sich selbst zu sprechen!“
Und am Ende erwähnt sie noch wie beiläufig: „Die EAs sind unsere Freunde, Menschen aus vielen verschiedenen Ländern und Kulturen. Ihr und wir, wir arbeiten gemeinsam für die Kinder“.

Corinna, November 2015

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