Nachbarn

Mein Aufenthalt in Palästina und Israel ist nun schon seit 2 Monaten vorbei, doch ich kann die letzten Wochen vor Ort nur schwer vergessen. Daher möchte ich rückblickend von den Ereignissen berichten, die wir in den letzten drei Wochen unseres Einsatzes dokumentiert haben.

Ausschnitt interaktive Karte www.btselem.org
Ausschnitt interaktive Karte www.btselem.org

Besonders häufig wurden wir in die palästinensischen Dörfer gerufen, die in der Nähe der Siedlung Yitzhar liegen. Yitzhar gilt als besonders ideologisch motivierte Siedlung. Seit vielen Jahren dokumentieren Mitarbeitende von UN und NGOs Übergriffe von Siedlern aus Yitzhar auf die umliegenden palästinensischen Dörfer. Erst vor einigen Tagen hat die israelischen Menschenrechtsorganisation Yesh Din eine Fallstudie zu Siedlergewalt und Landnahme rund um Yitzhar herausgegeben [1].  Nach internationalem Recht ist eine Besatzungsmacht verpflichtet, die lokale Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten vor Übergriffen zu schützen. Ein 2015 von Yesh Din veröffentlichter Bericht dokumentiert, wie selten das israelische Militär dieser Verpflichtung nachkommt[2]. Die palästinensischen Sicherheitskräfte wiederum haben aufgrund der seit den Oslo-Verträgen immer noch gültigen Aufteilung der palästinensischen Gebiete (Zonen A, B und C) und der damit einhergehenden Aufteilung der polizeilichen bzw. militärischen Kontrolle keinen Zutritt zu den palästinensischen Dörfern in unmittelbarer Nähe israelischer Siedlungen.

Verbrannte Autos in Urif, © EAPPI
Verbrannte Autos in Urif, © EAPPI

Palästinensische Autos schienen im Sommer besonders häufig Ziel von Übergriffen zu sein. Im Dorf Urif wurden die Reifen von drei Wagen zerstochen und alle Fensterscheiben eingeschlagen. Die Familien, deren Autos beschädigt wurden, haben ihre Häuser am Rand des Dorfes an der Grenze zur Siedlung und deren illegalen Außenposten gebaut und scheinen nun einen hohen Preis dafür zu zahlen. Eine der Familien kannten wir bereits, als wir zur Dokumentation des Vorfalls nach Urif kamen. Nur wenige Wochen zuvor waren zwei ihrer Autos vor ihrem Haus angezündet worden. Sie hatten sich ein sehr altes Auto als Ersatz für die zwei angezündeten Wagen geholt und nun wurde auch dieses schwer beschädigt. Der Vater erzählte uns, dass er noch die Kredite für die beiden verbrannten Autos abbezahlt. Uns fällt auf, dass die Menschen Gitter an ihren Fenstern anbringen. „Dein eigenes Haus wird zum Gefängnis“, sagt uns ein anderer Mann, dessen Auto ebenfalls stark beschädigt wurde. Und tatsächlich kommt es einem manchmal so vor: Viele Häuser haben hohe Mauern und vergitterte Fenster.

Vergitterte Fenster © EAPPI
Vergitterte Fenster © EAPPI

Viele der Taten geschehen nachts und die Täter vermummen sich. Allerdings berichteten die Dorfbewohner in diesem Fall, dass sie eine Gruppe von Menschen in Richtung der Siedlung haben rennen sehen. Außerdem werden häufig Wände oder Autos mit hebräischen Sätzen besprüht. Übergriffe finden jedoch auch am helllichten Tagen statt, wie Anfang August von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem per Video dokumentiert[3]. Zwei Soldaten der israelischen Armee stehen mitten unter den Siedlern, ohne sie davon abzuhalten, das Dorf zu attackieren. Im Gegenteil: Ihre Reaktion ist, Tränengas auf die Einwohner*innen von Urif zu schießen.

Auch der sogenannte zivile Sicherheitskoordinator der Siedlung Yitzhar ist im Dorf bekannt. Den Einwohnern zufolge komme er ab und zu ins Dorf, feuere einige Schüsse ab und bedrohe die Einwohner verbal. Obwohl diese zivilen Koordinatoren weder zum Militär noch zur Polizei gehören, scheinen sie häufig große Autorität zu haben, auch gegenüber dem Militär. Dies berichtet auch die Nichtregierungsorganisation „Breaking the Silence“[4].

Im Dorf Sinjil zwischen Nablus und Ramallah wurden im September unserem Kontakt zufolge innerhalb einer Nacht die Reifen von 33 Autos zerstochen, auf ein Auto wurde der Satz „Die Juden werden nicht schweigen“ gesprüht. Im Dorf Beita nahe Nablus wurden 11 Autos beschädigt. Hier waren die Dorfbewohner besonders besorgt, da die Autos nicht am Dorfrand standen, sondern mitten im Dorf. Eine Hauswand wurde auf Hebräisch mit dem Satz „Ihr werdet nicht sicher sein, bis ihr eure Aktionen beendet“ besprüht. Welche Aktionen gemeint waren, blieb unklar.

Eine Aufklärung dieser Vorfälle gibt es nur selten. Wir konnten selbst beobachten, wie ein israelisches Untersuchungsteam zu einem Vorfall gekommen ist. Leider führen diese Untersuchungen nur sehr selten zu Ergebnissen. Im Dezember 2017 publizierte „Yesh Din“ einen Bericht zur Strafverfolgung gegenüber israelischen Siedlern, die im Verdacht stehen, ideologisch motivierte Straftaten begangen zu haben[5]. Seit 2005 führten demnach nur 8% aller Anzeigen ideologisch motivierter Straftaten zu Anklagen und insgesamt 3% zu Schuldsprüchen.

Die meisten betroffenen Palästinenser zeigen derlei Straftaten gar nicht mehr an. Dies hängt zum einem mit der geringen Rate an tatsächlicher Strafverfolgung zusammen, aber auch damit, dass viele Angst haben, bei einer Anzeige selbst Probleme mit dem Militär oder der Polizei zu bekommen. Um eine Anzeige stellen zu können, müssen sie in die israelischen Polizeistationen, die in den illegalen Siedlungen selbst liegen. Außerdem berichteten uns viele Palästinenser, dass sie dort oft stundenlang warten müssen oder mehrfach weggeschickt und auf andere Tage vertröstet werden.

Hoffnung geben einem in dieser zermürbenden Situation Organisationen wie z.B. Yesh Din, die versuchen, den betroffenen Menschen z.B. mit rechtlichen Mitteln beizustehen. Dennoch ist es auch jetzt, einige Wochen nach meinem Aufenthalt, manchmal schwer, die Hoffnung nicht zu verlieren. Die Nachrichten aus meinem früheren Einsatzort Yanoun, aus Palästina und Israel stimmen mich nicht optimistisch. Ein Satz, den wir von Amos Giviritz, einem israelischen Friedensaktivisten während einer Trainingswoche in Israel gehört haben, ist mir im Gedächtnis geblieben. Er antwortete auf die Frage, warum er sich weiter für Frieden zwischen Israel und Palästina einsetze: „I don’t do it, because I think I can change anything, but because I cannot accept the horrors that are happening around me.“ Auch wenn es kein besonders optimistischer Satz ist, kann ich ihn dennoch sehr gut nachvollziehen und glaube nach meiner Rückkehr mehr denn je, dass wir alle nicht die Augen verschließen dürfen vor den Realitäten der Besatzungssituation und ihren Konsequenzen. Ich hoffe und wünsche mir, dass die Dokumentation meiner Erlebnisse und der Erlebnisse meiner Mitstreiter*innen dazu beitragen kann, den Menschen vor Ort ultimativ eine Zukunft in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen.

Ehemalige EA Anja, November 2018

 

Ich nahm für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.yesh-din.org/en/settler-violence-as-a-vehicle-for-taking-over-palestinian-land-with-state-and-military-backing/

[2] https://www.yesh-din.org/en/standing-idly-by-idf-soldiers-inaction-in-the-face-of-offenses-perpetrated-by-israelis-against-palestinians-in-the-west-bank/

[3] https://www.btselem.org/video/20180906_settlers_and_military_joint_assaults_urif#full

[4] https://www.breakingthesilence.org.il/inside/wp-content/uploads/2017/01/The-High-Command-Shovrim-Shtika-Report-January-2017.pdf

[5] https://www.yesh-din.org/en/data-sheet-december-2017-law-enforcement-israeli-civilians-west-bank/

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner