Menschlichkeit im Raketenhagel – Stimmen der Vernunft in Sderot

Sderot an der Grenze zum Gaza-Streifen
Sderot an der Grenze zum Gaza-Streifen

Wie lebt es sich in einer israelischen Stadt, in der seit 15 Jahren Raketen militanter palästinensischer Gruppierungen aus dem Gazastreifen menschliches Leid verursachen? In einer Stadt, in deren unmittelbarer Nachbarschaft drei Gazakriege (2008, 2012, 2014) immense Verwüstungen und tausende Tote hinterlassen haben? Wir haben die Friedensaktivistin Nomika Zion in Sderot getroffen und von ihr erfahren dürfen, wie der Alltag knappe drei Kilometer entfernt vom Gazastreifen aussieht.

Qassam-Rakete ausgestellt in einem Bunker in Sderot
Qassam-Rakete ausgestellt in einem Bunker in Sderot

„In Sderot ist mittlerweile jeder verletzt, die ganze Stadt“ sagt Nomika. Sie meint damit nicht nur Einwohner, die physische Verletzungen erlitten oder gar Angehörige verloren haben, sondern auch jene, die unter einer psychischen Belastungsstörung leiden oder deren Zuhause zerstört wurde. Uns wundert das nicht; wie soll es den Menschen auch gehen, wenn in Zeiten der Konfrontation um sieben Uhr morgens der Beschuss aus dem Gazastreifen eröffnet wird, genau dann, wenn Schulkinder auf dem Weg zum Lernen sind oder Familien auf dem Weg zur Arbeit?

Wenn der Raketenalarm ertönt, haben die Menschen in Sderot durchschnittlich 5-15 Sekunden Zeit, einen sicheren Unterschlupf zu finden. 5-15 Sekunden Zeit, um die Kinder auf der Rückbank abzuschnallen, zu beruhigen, und einen sicheren Ort aufzusuchen. Wenn es diesen nicht gibt, muss man sich auf die Straße legen und mit einer Decke zudecken. Mehr Schutz gibt es manchmal nicht. Weil es Zeiten gab, in denen Eltern ihre Kinder aus Angst nicht mehr auf die Straße gelassen haben, hat Sderot mittlerweile Spielplätze errichtet, in denen lange buntbemalte Betonraupen Schutz vor Raketenangriffen bieten. Nichtsdestotrotz, auch wenn die meisten Wohnungen Schutzräume haben, die Bushaltestellen Bunker sind und Spielplätze sicherer werden, die Angst um die Liebsten kennt keine Bunker.

Auf den Spielplätzen von Sderot stehen diese Betontiere, die im Fall eines Raketenangriffs als Schutzraum genutzt werden können
Auf den Spielplätzen von Sderot stehen diese Betontiere, die im Fall eines Raketenangriffs als Schutzraum genutzt werden können

Nomika zufolge leiden die Menschen in Sderot unter nicht enden wollender Sorge um ihre Familien und Freunde, ganz egal, ob sie auf Arbeit oder im Urlaub sind. Stets begleitet sie die Frage, ob es diesmal das eigene Kind, den Mann, die Frau oder die Eltern getroffen hat. Wenn nachts um drei Uhr der Alarm aufheult, wird „man schwächer und schwächer, bis man ganz aufgibt und wegzieht“, sagt Nomika. Das verändert eine Stadt, es macht sie gestresster, extremer und auch radikaler. Dabei war Sderot doch einmal anders.

Vor der ersten Intifada 1987 hatte Sderot einen so genannten „arabischen Markt“ und seine israelischen Bewohner gute Verbindungen zu Palästinensern im Gazastreifen. Man machte sogar Urlaub am Strand von Gaza oder arbeitete zusammen. Heute separiert die Trennungsbarriere nicht nur die Bewohner Gazas von denen Sderots, Israels und der Westbank sondern, so Nomika, sie erstickt auch das Mitgefühl füreinander. „Wir können keine Menschen aus Gaza mehr treffen!“. Auf beiden Seiten der Barriere findet man heute Hass, Angst und Agonie.

Blick von Sderot auf Gaza (Foto EAPPI)
Blick von Sderot auf Gaza (Foto EAPPI)

An dieser Episode des Konfliktes haben sich alle Parteien, wenn auch in unterschiedlichem Maße, schuldig gemacht. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werfen beiden Konfliktparteien Menschenrechts-verletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor: Den israelischen Streitkräften mit ihren flächendeckenden Bombardements während der Gazakriege und durch die anhaltende Abriegelung des Gazastreifens; der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppierungen durch den willkürlichen Beschuss der israelischen Zivilbevölkerung.

Das Sderot von heute ist auch moralisch Lichtjahre von 1987 entfernt. In den wiederkehrenden Wellen der Gewalt haben sich die Menschen verändert, sagt Nomika Zion. Während der drei vergangenen Gazakriege haben sich einige Bewohner Sderots auf einem nahegelegenen Hügel versammelt und dem drei Kilometer entfernten Kriegsgeschehen zugeschaut. Sie haben gejubelt und gejohlt, als zentnerschwere Bomben ganze Wohnblöcke in die Luft gesprengt haben und darunter Menschen begruben. Nur sehr wenige ihrer Nachbarn hätten in diesem Moment Empathie empfunden, sich gefragt, wie es den Familien auf der anderen Seite der Trennbarriere geht und wie viel Zeit ihnen wohl geblieben ist, bevor die Bombe einschlug, wohl wissend, dass es in Gaza keine Bunker gibt. Als die „Wände in Sderot von der Wucht der Bombenangriffe im Gazastreifen gebebt haben“, beschrieben manche die „Musik des Krieges“ als die schönste Musik der Welt.
Aber es gab auch jene Nachbarn, die mit den Palästinensern im Gazastreifen gelitten haben. Einige dieser Menschen haben im Raketenhagel, zwischen Chaos und Hass, ihre Vernunft und Menschlichkeit walten lassen. Sie haben sich in einem Bunker in Sderot getroffen und, während bis zu 40 Raketen täglich einschlugen, eine Friedensorganisation gegründet. So entstand 2008 „The Other Voice“ (Die andere Stimme, http://www.othervoice.org/welcome-eng.htm).

Nomika Zion im Gespräch mit einem Ökumenischen Begleiter (Foto EA Svanberg)
Nomika Zion im Gespräch mit einem Ökumenischen Begleiter (Foto EA Svanberg)

„Wir konnten der Spirale aus Gewalt und Hetze nicht mehr länger zuschauen“ sagt Nomika heute. Nach einer Gewalteskalation folgte Ruhe, dann wieder Gewalt und Hetze gegen Palästinenser und Israelis auf beiden Seiten, und dann Krieg. Immer wieder. Politiker missbrauchten die Ängste und die Wut der Menschen in Sderot, um mehr Hass zu säen. Als der Krieg begann sprachen sie von einer „Erleichterung in den Gesichtern der Bewohner Sderots“. Doch Nomika Zion widersprach und schrieb einen öffentlichen Brief mit dem Titel „Nicht in meinem Namen!“ (http://www.huffingtonpost.com/nomika-zion/war-diary-from-sderot_b_157497.html). Nicht in ihrem Namen wird Krieg geführt in Gaza, wird getötet und der Hass geschürt.
Mit den anderen Mitgliedern von „The Other Voice“ riefen sie Menschen im Gazastreifen an und unterhielten sich stundenlang mit den Familien dort. In der Fähigkeit, Leid und Schmerz zu teilen, sehen diese Frauen und Männer aus Sderot einen Weg, die Menschlichkeit zu bewahren, gar zu retten. Denn wo keine Empathie mehr ist, dort ist auch die Menschlichkeit verloren. „Wir haben begonnen, Beziehungen zu den Menschen in Gaza aufzubauen, die wir nicht treffen dürfen, aber deren Stimmen wir hören können, die Stimme der Anderen“ sagt Nomika.

Für die Mitglieder von „The Other Voice“ sind die Beziehungen zu den Palästinensern im Gazastreifen auch eine Gelegenheit, sich mit der eigenen Geschichte und der scheinbaren Hoffnungslosigkeit der jetzigen Situation auseinanderzusetzen. Nomika sieht nur Hoffnung auf Frieden und ein Ende der Gewaltspirale, wenn die Abriegelung des Gazastreifens beendet wird, denn „militärische Kraft wird auf lange Sicht keinen Frieden bringen!“
Doch „The Other Voice“ sieht sich, wie ein großer Teil der israelischen Friedensbewegung, mit vielfältigen Problemen konfrontiert: Einem brutalen Druck von Seiten der nationalistischen, religiösen Siedlerbewegung und der Maßregelung durch die Regierung. Bei einer der letzten Veranstaltungen, die „The Other Voice“ in Sderot geplant hatte, wurden die FriedensaktivistInnen von Seiten der Nationalisten derart bedroht, dass die Polizei nicht willens oder fähig war, ihren Schutz zu gewährleisten. Nomika Zion und ihre Gruppe mussten den Vortrag sieben Kilometer entfernt halten von Sderot, ihrer Heimatstadt.

Die Bemühungen der israelischen Friedensbewegung und ihr Mut geben nicht nur Grund zur Hoffnung auf Vernunft und Mitmenschlichkeit. Sie sollten uns allen auch ein Ansporn sein, sich mit dieser Bewegung solidarisch zu erklären und dementsprechend zu handeln! Für Israel, für Palästina und für Frieden.

Prokop, Dezember 2015

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