„Make your presence felt“

Vor einigen Tagen habe ich an einer Tour von „Breaking the Silence“(1) in Hebron teilgenommen. Diese Organisation besteht aus ehemaligen israelischen Soldaten, die öffentlich über ihre Militärzeit in der Westbank berichten. Ihr Ziel ist es, die israelische Gesellschaft mit dem zu konfrontieren, was im Namen der Sicherheit durch das Militär in den palästinensischen Gebieten geschieht. Ihnen geht es nicht um Schuldzuweisung gegen Soldaten oder das Militär, aber sie wollen das System verändern, in dem tägliches Unrecht möglich ist. Manche von ihnen werden wegen dieser Tätigkeit von ihrem sozialen Umfeld ausgeschlossen, als  Verräter beschimpft oder gar anonym bedroht.

„Make your presence felt“ („Lass sie deine Präsenz spüren“) lautet das Motto der israelischen Armee in den Palästinensergebieten, so erzählt es unser Tourguide. Oder auch „crumble their daily routine“ („zerbröckle ihre tägliche Routine“). Tägliche Willkür ohne System und immer wieder neue Schikanen: an einem Tag werden alle Menschen durchsucht, am nächsten Tag wird ‚nicht die Straße berühren‘ gespielt: die Soldaten bewegen sich einmal durch die ganze Stadt, indem sie über Dächer und durch Wohnungen laufen. Während ich diesen Ausführungen zuhöre denke ich: eine Gruppe von Soldaten, die über mein Dach kommend durch meine Wohnung läuft…? Das möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Hebron ist die einzige palästinensische Stadt, in deren Zentrum jüdische Siedler wohnen. Sie erheben ein Anrecht auf diesen Ort, weil die Gräber des Urvaters Abraham und seiner Frau Sarah hier liegen. Mitten in der Altstadt Hebrons liegen mehrere kleine Siedlungen, in denen circa 700 Menschen leben. Beschützt werden sie durch ein Großaufgebot der israelischen Armee. Viele der Mitglieder von Breaking the Silence haben selbst in Hebron gedient.

Zutritt verboten: dieser Teil der Shuhada-Straße, einst das kommerzielle Zentrum Hebrons, ist für Palästinenser nicht mehr zugänglich, alle Läden wurden geschlossen
Zutritt verboten: dieser Teil der Shuhada-Straße, einst das kommerzielle Zentrum Hebrons, ist für Palästinenser nicht mehr zugänglich, alle Läden wurden geschlossen

Im Zentrum Hebrons lag früher der Markt – er steht nun komplett verwaist, verschlossen und leer. Einige Geschäftstüren sind vermauert: diese palästinensischen Geschäfte werden von innen an die Siedlungen angeschlossen und als zusätzlicher Wohnraum genutzt.
Eine sogenannte Pufferzone soll die Siedler vor Übergriffen durch Palästinenser schützen. Deshalb dürfen Palästinenser bestimmte Straßen nicht benutzen und müssen oft große Umwege gehen. Auch Eingangstüren zu noch bewohnten palästinensischen Häusern wurden verschlossen. Ein YouTube Film der anerkannten israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem (2) zeigt, wie eine ältere Frau zunächst über ihr eigenes Dach, dann das der Nachbarn und schließlich durch deren Wohnung auf die Straße gelangt (3).

Wir gehen in einer Gruppe durch den Ort. Unsere ständigen Begleiter sind mindestens zwei Siedler mit Kameras, die sie unserem Tourguide von Breaking the Silence oft in weniger als einem Meter vors Gesicht halten. Auch Kinder tun dies. Das soll vielleicht der Einschüchterung dienen, er jedoch zeigt sich unbeeindruckt und verweist lediglich auf die „mindestens eine Millionen Stunden Filmmaterial“, die über ihn existieren. Als Kinder mit einem lauten Musikgerät seine Ansprache übertönen, wird die Polizei gerufen und die Kinder entfernen sich, belästigen die nächste Gruppe.

Ich halte das alles kaum für möglich – eine Art schlechtes Disneyworld, in der wir uns durch ein Netz von Spannungen und Anfeindungen bewegen. Ich spüre, wie meine eigene Wut an diesem Ort steigt. So entferne ich mich etwas von der Gruppe und schaue mir die alten arabischen Häuser an, deren einstige Schönheit noch zu erahnen ist.

Gegen Ende der Tour ruft uns eine Siedlerin zu: „Glaubt ihm nicht, er lügt. Wir haben dieses Land rechtmäßig erworben!“ Sie zeigt zum Beweis ein verknittertes Papier mit unleserlicher Schrift. Sie lädt uns ein, sie zu besuchen und ihr zuzuhören. Hätte ich mehr Zeit, würde ich mir tatsächlich gern anhören, was sie zu sagen hat. Auch sie vertritt eine Realität in diesem Land – wenngleich sich uns die ‚Logik‘ der Siedler oft nicht erschließt.

Ich will diese Geschichten nicht glauben. Kann das alles wahr sein? Was passiert hier? Und wie könnten jemals die Wunden auf beiden Seiten heilen? Nach diesem Tag fühle ich mich erschlagen von der Gewalt des Ortes, weiß nicht, wohin mit all diesen Informationen, kann nicht verhindern, dass mir immer wieder das Wort „Unrechtsstaat“ durch den Kopf geht. Israel bezeichnet sich selbst als die „einzige Demokratie“ im Mittleren Osten. Neben einer Reihe anderer israelischer Organisationen sehen auch die Mitarbeiter von „Breaking the Silence“ diese Demokratie derzeit sehr gefährdet.

Das wirft für uns Freiwillige wieder einmal die Frage auf, wie sinnvoll oder einflussreich unser Tun hier ist. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass eine Einschätzung dazu für uns selbst oft kaum möglich ist. Jedoch hören wir nun neben Palästinensern auch Israelis, die unsere Präsenz für extrem wichtig halten und uns große Anerkennung geben. Ein Mitarbeiter von „Breaking the Silence“ gibt uns eine anschauliche Darstellung davon, wie sehr er sich als Soldat von internationalen Beobachtern gestört fühlte, wie sehr er sein Verhalten ‚anpassen‘ musste. Heute sagt er: „Ohne euch gäbe es definitiv mehr Gewalt.“ Eine israelische Aktivistin bezeichnet uns als ihr Sprachrohr und sagt: „Berichtet der Welt, dass es Israelis gibt, die gegen die Besatzung sind – wir brauchen euch dafür!“ Ein Anderer macht deutlich, wie extrem wichtig unsere Unparteilichkeit ist: nur durch sie, so sagt er, bleiben wir glaubhaft (4).

Erdmuthe, Februar 2017

1. www.breakingthesilence.org.il
2. www.btselem.org
3. www.youtube.com/watch?v=JIDMopaycvY
4. http://eappi.org/en/about/values-1: “Principled Impartiality – We are not pro-Israeli or pro-Palestinian and we do not take sides in the conflict. We are pro-human rights and international humanitarian law. We do not discriminate against anyone and stand faithfully with the poor, the oppressed, and the marginalized.”

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