Lebensrealitäten zwischen Bergidylle, Siedlungen und Militärtrainings – Von der Standhaftigkeit der Menschen im Jordantal

Es ist heiß, trocken, die Schafe, Ziegen und der Esel mampfen bedächtig trockene Grashalme. Auf den wenigen schattigen Plätzen haben sich die Hütehunde ausgestreckt und faulenzen. Mein Blick schweift in die Ferne. Eine faszinierende Hügellandschaft erstreckt sich vor mir. Weite, Steinwüste, grüne Tupfer hier und dort: Das Jordantal.

Plötzlich beginnen die Schafe wie wild zu blöken und versammeln sich. Ein Zicklein wurde soeben geboren. Der Hirte Fawzi ist verwundert. Er hat es noch nie erlebt, dass sich alle Tiere bei einer Geburt versammeln. Dieses Zicklein scheint etwas Besonderes auszustrahlen.

EAs begleiten einen Schäfer und seine Herde im Jordantal; Foto © EAPPI
EAs begleiten einen Schäfer und seine Herde im Jordantal; Foto © EAPPI

Langsam beruhigen sich die Schafe und Ziegen wieder und wenden sich der Suche nach etwas Essbarem zu. Das Zicklein macht seine ersten Aufsteh- und Gehversuche. Die Szenerie wirkt friedlich- doch die Idylle täuscht: In der Ferne donnern Schiessgeräusche. Wir sind in allen Richtungen von Militärzonen, einer Siedlung sowie zwei Siedlungsaußenposten umgeben.

Ich befinde mich in Khirbet Samra, einer kleinen Gemeinde im nördlichen Jordantal. Hier leben seit vielen Generationen Hirtenfamilien. Die Familie von Fawzi lebte früher auf der anderen Seite des Berges, heute lebt dort ein Siedler. Das Leben der palästinensischen Hirten im Jordantal ist beschwerlich. Im Gegensatz zu den landwirtschaftlichen Betrieben der umliegenden Siedlungen gibt es für sie kaum Futter für die Tiere, kein fließend Wasser und keinen Stromzugang. Zur Last wird das Leben in Khirbet Samra aber vor allem durch die immer wiederkehrenden gewalttätigen Auseinandersetzungen mit israelischem Militär und Siedlern.

In der Nähe der Siedlung und der Siedlungsaußenposten dürfen die Hirten ihre Schafe nicht grasen lassen. Im Jahr 2017 verjagten Siedler des damals neuen Außenpostens die Hirten vom Feld, indem sie bewaffnet und mit Hunden durch Khirbet Samra fuhren und den Familien deutlich machten, dass sie den Siedlungen nicht näher kommen sollten. In letzter Zeit, so berichten uns Fawzi und seine Brüder Diyab und Ayman, kommen die Siedler immer wieder in die Nähe ihrer Gemeinde und machen Fotos.

Die Fläche, die ihnen für ihre Schafe bleibt, wird häufig zur militärischen Trainingszone erklärt. Manchmal finden tatsächlich Übungen statt, so wie heute. Dann wird scharf geschossen, Munitionsreste bleiben liegen, Weideflächen werden durch die schweren Militärfahrzeuge unbrauchbar gemacht, der Lärm der Übungen verschreckt Menschen und Tiere.

Die Gemeinde Khirbet Samra im Vordergrund, dahinter eine naheliegende Militärbasis; Foto © EAPPI (aufgenommen 2017)
Die Gemeinde Khirbet Samra im Vordergrund, dahinter eine naheliegende Militärbasis; Foto © EAPPI (aufgenommen 2017)

Zwei Mal in der Woche begleiten wir Fawzi und seine Brüder bei ihrer Arbeit. Diese Form der Begleitung nennt sich „protective presence“. Durch unsere Anwesenheit hoffen wir, den Hirten Schutz vor gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Siedlern oder Militär zu gewähren.

Dieses Jahr kamen die drei Brüder mit ihrem Vater und seiner Frau, den zwei Schafherden, Eseln und Hunden erst Ende Oktober aus ihrem Sommerquartier zurück nach Khirbet Samra. Die Sommermonate verbrachten sie in der nächstgelegenen Stadt Tubas, da es dann für ein Leben in Zelten in Khirbet Samra zu heiß ist.

Fawzi erzählt uns, dass er, wenn die Besatzung nicht wäre, anstatt der Zelte Steinhäuser bauen würde.  Die Angst vor Hauszerstörungen hindert ihn jedoch daran, ein festes Haus zu bauen. Zu hoch wäre der finanzielle Verlust. In Zone C, etwa 60% der Westbank, darf nur mit israelischer Genehmigung gebaut werden[1]. Diese Genehmigung wird Palästinensern jedoch so gut wie nie erteilt, wie z.B. die israelische Menschenrechtsorganisation B‘Tselem[2] berichtet. Ohne Genehmigung gebaute Häuser werden früher oder später von den israelischen Behörden abgerissen. Daher baut Fawzi in Khirbet Samra kein Haus, sondern ein Zelt auf.

Khirbet Samra liegt, umgeben von Siedlungen (lila, orange) und militärischem Sperr- und Übungsgebiet (grau) im C-Gebiet des nördlichen Jordantals. Karte ©UNOCHA
Khirbet Samra liegt, umgeben von Siedlungen (lila, orange) und militärischem Sperr- und Übungsgebiet (grau) im C-Gebiet des nördlichen Jordantals. Karte ©UNOCHA

Im Jordantal erhalten die meisten palästinensischen Dörfer nur eingeschränkten oder gar keinen Strom- und Wasserzugang. Die meisten Menschen hier leben wie Fawzi von der Landwirtschaft. Ohne Wasser kann jedoch kein Feld bestellt und kein Schaf getränkt werden. Fawzi kann die Strommasten sehen, sie führen direkt an seinem Grundstück vorbei. Der Strom ist für die nahegelegenen Siedlungen vorgesehen. Die Menschen in Khirbet Samra sind auf kleine Solaranlagen angewiesen, die meist von internationalen Gebern gespendet werden.

EA beobachtet das Aufbauen der Zelte in Khirbet Samra; Foto © EAPPI
EA beobachtet das Aufbauen der Zelte in Khirbet Samra; Foto © EAPPI

Vor zwei Jahren berichtete die deutsche EAPPI Teilnehmerin Vanessa bereits von der Situation in Khirbet Samra (http://www.eappi-netzwerk.de/begleitung-im-jordantal/). Sie schilderte das Leben von Mahyoub. Er ist der Schwager von Fawzi und lebte viele Jahre in der kleinen Gemeinde. Seine Familie beschloss jedoch vor einiger Zeit, nach Tubas in die Zone A umzuziehen, in der Hoffnung, dort ein leichteres Leben führen zu können. In Khirbet Samra fühlten sie sich nicht mehr sicher. Die gewaltvollen Auseinandersetzungen mit Siedlern und Militär brachte die Familie dazu, ihre Heimat zu verlassen.

Mahyoub tauschte seine Schafe schweren Herzens gegen Gewächshäuser ein und hoffte, so ein sorgenfreieres Leben führen zu können. Die Besatzung endet jedoch nicht einfach an der Stadtgrenze. So liegen die Felder, die Mahyoub mit anderen Landwirten bestellt, größtenteils in Zone B, aber teilweise auch in Zone C. Mayoub sagt, dass die Grenzen zwischen den Zonen auch immer wieder verschoben werden. Gemeinsam haben die Landwirte drei Wasserspeicher gebaut. Auf diese Weise wollen sie sich ihre Wasserversorgung sichern und ihre Felder bewässern. Nun haben sie eine sogenannte „demolition order“, eine Zerstörungsanordnung erhalten, da angeblich eines der Becken zur Hälfte in Zone C steht. Sie dürften, so Mahyoub, dieses zur Hälfte benutzten, was bei einem runden Becken, das mit Wasser gefüllt ist, durchaus schwierig erscheint.

Mahyoub wirkte bei unserem Besuch in seinen Gewächshäusern ausgelaugt. Er ist von der Besatzung müde. Er stellt die Frage, die wir in den letzten Wochen schon oft gehört haben: „Wohin sollen wir gehen?“ Gemäß B‘Tselem[3] wurden 90% des Jordantals zu Zone C erklärt. Entsprechend können nur 10% eines der fruchtbarsten Gebiete des Westjordanlands von Palästinenser*innen genutzt werden, einschließlich für die Deckung des Bedarfs an Wohnraum. Daneben leben im Jordantal über 11 000 Menschen in 38 israelischen Siedlungen, die landwirtschaftliche Flächen unter Einsatz großer Mengen Wassers bewirtschaften.

Zurück zu Fawzi und den Schafen und Ziegen. Nach einer Weile machten wir uns mit der neugeborenen Ziege in der Satteltasche des Esels auf den Weg zurück ins Dorf. Dort trafen wir auf drei israelische Friedensaktivist*innen. Sie unterstützen Hirten und Beduinen im Jordantal in ihrem Alltag und versuchen, zwischen ihnen und den israelischen Sicherheitskräften und Siedlern zu vermitteln und für die Rechte und Bedürfnisse der Hirten einzustehen. Die drei Frauen sind Ende 50 und leben in verschieden Teilen Israels. Sie sind nicht Mitglieder einer Gruppe, sondern organisieren sich privat. An ihren freien Tagen fahren sie in die Westbank und verbringen ihre Zeit mit den Menschen im Jordantal. Es ist ihnen dabei wichtig, deutlich zu machen, dass nicht alle Israelis hinter der Politik stehen, die in ihrem Namen durchgesetzt wird.

Fawzi spricht von seinen israelischen Freund*innen. Beim gemeinsamen Essen schwirren arabische, hebräische und englische Wortbrocken durch die Luft. Draußen blöken die Schafe, die getigerte Katze jammert laut, das neugeborene Zicklein begutachtet sein neues Zuhause. Und in mir macht sich ein Funken Hoffnung breit.

Friederike, im November 2019

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von Pax Christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind. 

Weiterlesen:

OCHA (2018): West Bank Access Restrictions, Tubas. Online unter https://www.ochaopt.org/content/tubas-access-restrictions-july-2018

Knaul, Susanne (2019): Es war Liebe. Online unter https://taz.de/Abschied-der-taz-Israel-Korrespondentin/!5629112&s=susanne+knaul/

Knaul, Susanne (2018): 25 Jahre Osloer Friedensabkommen. Zonen-Grenzen in Palästina. Online unter https://taz.de/25-Jahre-Osloer-Friedensabkommen/!5532631&s=Oslo+A+B+C/

[1] Im Osloer Friedensabkommen wurde das Westjordanland, in dem das Jordantal liegt, in drei Zonen geteilt. Die Idee dahinter war der stufenweise Abzug des israelischen Militärs aus den besetzten palästinensischen Gebieten, Voraussetzung für die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung, zu der es bis heute nicht gekommen ist. Stattdessen existiert auch nach 25 Jahren weiterhin die gleiche Zoneneinteilung der Westbank, mit erheblichen Folgen für die ansässige palästinensische Bevölkerung Zone A umfasst etwa 18 % des Westjordanlandes und wird von den palästinensischen Behörden autonom verwaltet, Zone B umfasst 22 % und ist zum Teil autonom und steht unter israelischer Sicherheitskontrolle, Zone C umfasst den größten Teil mit 60% und steht unter voller Kontrolle des israelischen Militärs (Knaul 2018, B‘Tselem 2018).

[2] https://www.btselem.org/topic/planning_and_building

[3] https://www.btselem.org/jordan_valley

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