„In Berlin ist die Mauer auch gefallen!“

Morgens am Checkpoint 300

EA in der Warteschlange am Checkpoint 300
EA in der Warteschlange am Checkpoint 300

Es ist kalt, es ist nass und es ist dunkel. Halb fünf Uhr morgens: Ein palästinensischer Arbeiter fragt mich verzweifelt „Sag mir, sind wir Tiere“? Dabei zeigt er auf einen seiner Mitmenschen, der sich durch einen ca. 25cm hohen Spalt unter einem Metallgitter hindurchzwängt. Niemals im Leben hätten wir gedacht, dass dort ein Mensch hindurchpassen würde. An diesem Morgen sind es mehr als hundert Männer die so versuchen, die menschenunwürdige, elendige und Stunden dauernde Prozedur am Checkpoint ein wenig zu verkürzen. Sie kommen dann in einen Vorraum mit einem Drehkreuz, der so vollgestopft ist, dass das Drehkreuz teils blockiert ist. Nur mit Gewalt können sich dann bis zu vier Menschen auf einmal durchpressen. Alles ächzt, alles stöhnt. Hinter ihnen, in der regulären, eng eingezäunten Gasse stehen hunderte Menschen, die teilweise schon seit zwei oder drei Uhr morgens warten. Eine ewige Schlange von Schicksalen. An diesem Morgen werden allein in den drei Stunden unserer Anwesenheit 4345 Menschen in dem riesigen Terminal des „Checkpoint 300“ in Bethlehem den menschenunwürdigen Abfertigungsprozess durchlaufen, darunter Alte, Frauen und Kinder.

Eigentlich sollten wir hier gar nicht stehen müssen, denn eigentlich dürfte es den Checkpoint hier gar nicht geben. Der Checkpoint 300 ist kein gewöhnlicher Grenzübergang, der zwei Staaten voneinander trennt. Der Checkpoint trennt Palästina von Palästina, Bethlehem von Ost-Jerusalem, die Grüne Linie ist etwa zwei Kilometer entfernt. Er ist Teil der sogenannten Trennbarriere. Israel begann 2002 mit dem Bau dieser Anlage, die in urbanen Gebieten aus einer bis zu acht Meter hohen Mauer und auf dem Land aus einer Reihe elektronischer Zäune und Gräben besteht. Damals, auf dem Höhepunkt der 2.Intifada, schien es für viele einleuchtend, dass Israel sich mit einer Art „Grenzanlage“ schützen möchte. Die Trennbarriere ist mittlerweile zu 2/3 errichtet, Selbstmordattentate hat es trotz der weiterhin kaum gesicherten Abschnitte seit fast 10 Jahren nicht mehr gegeben, täglich gelangen tausende palästinensische Arbeiter*innen durch Schlupflöcher nach Israel. Die Sicherheitsrelevanz dieser Anlage kann also durchaus in Frage gestellt werden. Hannah Barag von der israelischen Menschenrechtsorganisation „Machsom Watch“ hatte uns schon zu Beginn unseres Einsatzes mit EAPPI davor gewarnt, nach dem Betreten der Westbank überhaupt nach dem Sinn der israelischen Sicherheitspolitik in den besetzten Gebieten zu fragen. Hannah und ihre Mitstreiter*innen versuchen seit Jahren, Menschen an Checkpoints zu helfen. Sie kennen das Militärsystem sehr gut und sind somit auch wichtige Ansprechpartner für uns EAs.

Schwerwiegender als die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Trennbarriere ist aber der Rechtsbruch, welcher mit ihrem Verlauf einhergeht (Karte Westbank). 85% der Anlage stehen in der Westbank, teilweise bis zu 20 Kilometer östlich der Grünen Linie, der international anerkannten Grenze zwischen Israel und Palästina. Die Trennbarriere führt so zur de-facto Annexion von Teilen der Westbank zum israelischen Staatsgebiet, besonders in Bereichen mit einer hohen Dichte an illegalen Siedlungen. Ein Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag bestätigte 2004 die Illegalität der Trennbarriere und forderte ihren Abbau überall dort, wo sie vom offiziellen Grenzverlauf abweicht.

Schon am frühen Morgen warten hunderte Menschen vor dem Checkpoint auf Einlass
Schon am frühen Morgen warten hunderte Menschen vor dem Checkpoint auf Einlass

Die Trennbarriere schränkt das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerte Recht eines jeden Menschen ein, sich innerhalb eines Staates frei bewegen zu können (Art. 13 AEMR). Dieses Recht beschneidet auch der Checkpoint 300. Palästinenser*innen aus Bethlehem und Umgebung, die morgens nach Ostjerusalem oder andernorts hinter der Mauer zur Arbeit gehen, Familien besuchen wollen, studieren, zum Arzt oder ins Krankenhaus müssen oder freitags auf dem Haram al-Sharif (Tempelberg) beten wollen, sie alle müssen hier durch. Das können sie aber nur mit gültigen Passierscheinen. Es gibt ca. 100 unterschiedliche Arten von Passierscheinen. Sogar ein Esel, das Arbeitstier vieler Bauern, braucht einen Passierschein. Diese Scheine sind der Schlüssel zur anderen Seite, sie zu erhalten ist kompliziert und aufwendig. Kaum jemand kann hier einfach mal seine Familie auf der anderen Seite besuchen oder am drittheiligsten Ort des Islam beten. All das hängt von der Gunst der israelischen Behörden ab. So weicht auch das Menschenrecht auf Religionsfreiheit an manchen Tagen den Sicherheitsbestimmungen der israelischen Behörden.

Junge Männer versuchen, einen vorderen Platz in der Warteschlange zu ergattern
Junge Männer versuchen, einen vorderen Platz in der Warteschlange zu ergattern

Neben all den rechtlichen Aspekten ist es aber vor allem die Menschlichkeit, die an diesem Ort so verloren scheint. Nach dem ersten Drehkreuz, also nach einer halben Ewigkeit des Drängens und der Enge, gelangen die Palästinenser*innen zur nächsten Warteschlange und an ein weiteres Drehkreuz, dann an einen Metalldetektor und schließlich an die Dokumenten-kontrolle. Dort werden einige von ihnen dann abgewiesen. Einen Grund müssen die israelischen Beamten nicht angeben. Mal steht jemand auf der schwarzen Liste, mal erkennt das System die Dokumente nicht an und mal ist der Daumen des Arbeiters so schmutzig, dass der Fingerabdruckdetektor keinen Abdruck erkennt. An diesem Ort hängt auch so vieles vom Gemüt der israelischen Beamten ab: Ein guter Tag verläuft ohne Zwischenfälle, an einem schlechten wird geschrien, getreten und gestoßen, an einem richtig schlechten auch mal eine Tränengasgranate in die Warteschlange geworfen. Dasselbe gilt für die sogenannte Humanitarian Line (Humanitärer Durchgang). Sie soll eigentlich für Frauen, Kinder, Studenten, Kranke und Alte durchgehend geöffnet sein. Mal ist sie es, mal nicht. Wenn wir EAs bei der sogenannten „Humanitarian Hotline“ anrufen und bitten, diesen Durchgang zu öffnen, geschehen manchmal kleine Wunder und sofort können die Wartenden durch das Drehkreuz gehen. An anderen Tagen geschieht auch nach mehreren Anrufen und Versprechungen am Ende der Leitung gar nichts.

Wie kann man an diesem grau getünchten Betonort Hoffnung und Menschlichkeit bewahren? Wie kann man das jeden Tag auf dem elendig frühen Weg zur Arbeit ertragen? Eben das ist das Wunder von Palästina: In dem Gedränge und Gequetsche gibt es immer wieder Menschen, die noch lachen können, wird einer Frau mit Kind Platz gemacht oder ein alter Herr durch die Reihen geleitet. Ein palästinensischer Student und ich müssen lachen, als wir uns über den Checkpoint beschweren und er mich fragt, woher ich komme: „Siehst du,“ sagt er schließlich, „das gibt uns Hoffnung. In Berlin ist die Mauer auch gefallen.“

Prokop, am 9.11.2015, 26.Jahrestag des Falls der Berliner Mauer

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