Grenzen überwinden – Eric aus Sderot

Mit Eric an der Grenze zu Sderot
Mit Eric an der Grenze zu Sderot

Eric ist auf den ersten Blick ein unscheinbarer freundlicher Mann um die 50, aber er wächst geradezu über sich hinaus, wenn er da an der weiträumig abgesperrten Grenze zwischen Israel und Gaza steht und die Lage erklärt. Vor einiger Zeit sind wir mit unserer EAPPI‐Gruppe nach Sderot gefahren. Wir treffen einen Referenten an, der diese Grenze täglich vor Augen hat. Eric tritt für eine Aufhebung der regelrechten Abriegelung Gazas ein und berichtet von Zeiten unkomplizierter Begegnungen über die damals noch nicht verschlossene Grenze.

Eric, der seit seinem 5. Lebensjahr hier wohnt, erzählt uns, dass er als Israeli seinen Standort in der Welt gefunden habe und für die Versöhnung arbeite, weil es dazu keine Alternative gäbe. Er habe bei einem längeren Besuchsaufenthalt in den USA gespürt, dass sein Platz hier sei, in dieser untypischen Stadt für Israel: relativ weltoffen mit je zur Hälfte zugezogenen Juden aus Afrika und der Sowjetunion. „Dies ist keine Stadt am Rande; es ist auch eine Musik‐Stadt, eine College‐Stadt. Meine Familie lebt in einem offenen Kibbutz mit 30 Familien, also ungefähr einhundert Leuten, nachbarschaftlich zusammen.“

Mit dem Beginn der Zweiten Intifada 2000 habe sich die Situation deutlich verschlechtert. 2001 schlug die erste aus dem Gaza‐Streifen abgefeuerte Rakete auf israelischem Gebiet ein. Nach dem Militär‐ und Zivil‐Abzug unter Ministerpräsident Sharon 2005 bezeichnete sich Israel als nicht mehr verantwortlich für Gaza. Aber als die Hamas 2007 die Kontrolle übernahm, wurde Gaza für Israel eine „hostile entity“, ein feindliches Gebiet und fast vollständig abgeriegelt. Es folgten die Kriege 2009, 2012 und 2014 ‐ „ein einziger Niedergang“, so sagt es Eric. Gleichzeitig waren das die Jahre, in denen Sderot immer mehr zu leiden hatte unter den Raketenangriffen der Hamas und anderer Gruppen. Eric berichtet: „2008 schlugen 1‐2 in der Woche hier ein; nach einigen Jahren 1‐2 pro Tag und 2013‐14 dann 14 bis 15 am Tag. Es sind ja nur 3,5 km Fluglinie. Die Situation wurde sehr schwierig an der Grenze: immer wieder „Alert“/Alarm. Jedes Haus bekam einen „safe room“ (Bunker), der bei jedem Alarm aufgesucht werden musste. So gab es wenige Tote, aber viele Traumatisierte.“

Im Gazastreifen wiederum sei heute der absolute Tiefpunkt erreicht, meint Eric: „Gaza hat nur noch 3 Std. Strom am Tag.“ Mit dem Grenzübergang Erez in der Nähe von Sderot sei nur noch ein Durchgang für den Personenverkehr offen. Passieren könnte man diesen nur mit einer speziellen Genehmigung, die schwer zu erhalten sei. Der zweite verbliebene Grenzkontrollpunkt Kerem Shalom ist nur für Karni südöstlich von Gaza-StadtWaren und Güter vorgesehen, und auch hier nur für solche, die nach den strengen israelischen Vorgaben überhaupt in den Gaza-Streifen importiert werden dürfen[1]. Mehrere Versuche von internationalen Aktivist*innen, die Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen und per Schiff Hilfsgüter in den Gaza-Streifen zu liefern, sind bereits gescheitert. So stehen in Kerem Shalom jeden Tag lange Kolonnen von Lastwagen an, um die Versorgung der fast 2 Millionen Menschen rudimentär zu sichern, etwa 1,3 Millionen von ihnen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen[2]. Der Zugang aus der Wüste Sinai, Rafah, wird von Ägypten weitestgehend geschlossen gehalten; er wurde aber wohl aus humanitären Gründen kürzlich für 48 Stunden geöffnet.

Eric und einige seiner Bekannten spürten schon in den Anfangsjahren der Eskalation zwischen Israel und Gaza, dass sie sich nicht mit der gegenseitigen Gewalt zufriedengeben wollten, weil es eben keine Lösung sei.  Sie verstanden sich als „andere Stimme“ und gründeten 2008 „The Other Voice“. Eric erinnert sich: „Wir waren eine Kerngruppe von 40 Leuten und hatte Verbindung zu etwa weiteren einhundert, die alle mehr oder weniger guten Kontakt nach Gaza gehabt hatten. … Wir sind hier weniger hardline und leben eher in tiefster Erwartung eines friedlichen Zusammenlebens wie in den ´alten Zeiten` der 80er und 90er Jahre, als es hier auch einen großen ´Arabischen Markt` gab.“

Als erste Kampagne beschloss man in Sderot eine wöchentliche Demonstration auf einem der Hauptverkehrspunkte, der „Mordechai Junction“. Eine kleine Minderheit seien sie auch jetzt noch, aber – so rechnet Eric vor –  sie erreichten durch ihre wöchentliche Demonstration dort doch tausende Autofahrer: „Zehntausend etwa sehen uns an so einem Tag, also Menschen, von denen dann doch vielleicht einige in Zukunft mehr nachdenken und nachfragen, so dass künftig immer mehr für Grenzöffnung und Dialog eintreten.“  So spricht ein Real-Utopist! Und dann wird er doch politischer: „Wir müssen eine Koalition bilden, die den nächsten Krieg verhindert; wir brauchen einen Politikwechsel. Es wird einen weiteren Krieg geben, wenn wir die Situation nicht bald verändern. Wir sind gegen Fundamentalisten auf beiden Seiten, die dies verhindern wollen.“ „Das ist auch unser Eigeninteresse“, sagt Eric. Denn sie suchten einen nicht-abgrenzenden Frieden zur anderen Seite – mit Gaza.

So halten sie auch nach fast 10 Jahren weiterhin Kontakt zu Freunden und Bekannten in Gaza, organisieren Konferenzen, demonstrieren, schreiben Artikel. Sie fordern von ihrer eigenen Regierung, dass die Stromzufuhr nach Gaza von derzeit 3 auf mindestens 8 Stunden am Tag gesteigert wird. Und sie verbreiten weiterhin die Botschaft, dass die „Entmenschlichung“ der Nachbarn auf der anderen Seite der Mauer ein gefährlicher und moralisch unverantwortlicher Weg sei, Feindbilder zu verschärfen.

Am Ende unseres Treffens spricht er noch ein Thema an, von dem er sagt, dass er davon eigentlich nicht viel Ahnung habe: „Ich warte auf den gewaltfreien Aufstand der Palästinenser. Es sind da Prozesse von gewaltfreiem Widerstand im Gang, und diese werden eines Tages den Weg zu ihrer Freiheit bahnen.“

Und dann sagt er wie zur eigenen Ermutigung noch einen Satz, der in uns Zuhörenden weiterklingt: „I´m not willing to lose hope!“ – „Ich bin nicht bereit, die Hoffnung zu verlieren!“

Reinhard, September 2017

[1]http://www.cogat.mod.gov.il/en/services/Documents/List%20of%20Dual%20Use%20Items%20Requiring%20a%20Transfer%20License.pdf

[2] https://www.ochaopt.org/content/gaza-strip-humanitarian-impact-blockade-november-2016

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