Es ist Halbzeit – Zeit für neue und andere Perspektiven

„Höre Israel, der Ewige ist unser G-tt, der Ewige ist einzig. Gelobt sei der Name der Herrlichkeit Seines Reiches für immer und ewig.“

– Schma Jisrael, jüdisches Glaubensbekenntnis

Die erste Februarwoche war dem I in EAPPI gewidmet. Im Rahmen unseres Zwischenseminars erhielten wir einen Einblick in die facettenreiche israelische Gesellschaft. Wir besuchten Yad Vashem, fuhren nach Haifa, trafen Vertreter*innen israelischer Menschenrechtsgruppen und jüdischer Gemeinden. Von zwei Begegnungen in dieser Woche möchte ich heute berichten.

Nava, Aktivistin

Nava nach ihrem Vortrag; Foto © EAPPI
Nava nach ihrem Vortrag; Foto © EAPPI

Wir treffen Nava, geboren in den USA und mit 12 Jahren nach Israel immigriert. Nava beschreibt sich selbst mit folgenden Stichworten: Orthodox, weiblich, Ehefrau, Mutter, Aktivistin, Zionistin, Feministin, sie liebt es bunt.  Orthodoxes Judentum bedeutet für sie, dass man koscher lebt, den Schabbat und die jüdischen Gesetze (Halacha) einhält. Ganz konkret bezeichnet sie sich als national-religiös (Dati Leumi), eine Ideologie, die orthodoxes Judentum und Zionismus kombiniert. Sie vertritt damit ungefähr die Ideologie, die auch durch die Siedler vertreten wird, und ist damit eher im rechten politischen Spektrum zu verorten.

„Ich möchte nicht, dass wir Besatzer sind, aber ich möchte auch ein sicheres Leben für mich und meine Familie.“ Nava hat nicht in der Armee gedient, sondern drei Jahre lang als Freiwillige im Gesundheitswesen gearbeitet[1]. Heute bereut sie diese Entscheidung und wünscht sich, dass ihre Kinder später der Armee beitreten werden. „Ich glaube nicht, dass die israelische Armee Menschenrechtsverletzungen begeht, nur weil sie es kann, sie tut es, wenn überhaupt, nur um die Sicherheit zu gewährleisten.“

Schon früh hat Nava gespürt, dass sie sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzen möchte. Aus diesem Bestreben heraus hat sie eine Organisation gegründet, die arbeitende Mütter in Israel stärken will. Ihre Organisation heißt Ima Kadima, was übersetzt so viel wie „Mütter nach vorne“ bedeutet. „Ich habe für mich beschlossen, mich in meinem Aktivist*innendasein auf Dinge innerhalb der israelischen Gesellschaft zu konzentrieren, also Bereiche in denen ich wirklich einen Unterschied machen kann.“

Die Organisation setzt sich für die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein. Laut der Informationen auf ihrer Facebook-Seite sind bei Ima Kadima karriereorientierte Mütter jeglichen Hintergrunds willkommen, unabhängig von Alter, Religion oder Volkszugehörigkeit. Das ist ein lobenswerter Ansatz, aber ist er auch umsetzbar in der aktuellen Situation?

In Navas Verständnis des israelisch-palästinensischen Konflikts gibt es zwei wichtige Perspektiven: die rationale und die religiöse. Die Besatzung ist für sie aus religiöser, moralischer Sicht falsch. Ihr wären ein Zusammenleben und eine Integration der Menschen, die in der Westbank leben, lieber, das Sicherheitsmonopol müsste jedoch bei Israel bleiben. „Die Menschen in der West Bank haben keine gute Regierung, sie ist korrupt und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Ich habe Verständnis für den Unmut der Menschen, vor allem für die, die in Flüchtlingslagern leben. Aber die Sicherheit meiner Familie ist mir wichtiger.“ Ihre Meinung zur Siedlungspolitik basiert auf religiösen Vorstellungen und den historischen Erfahrungen des jüdischen Volkes: „Nach 2000 Jahren Diaspora hat Gott uns endlich in unser Land zurückkommen lassen. Ein jüdischer und demokratischer Staat ist überlebenswichtig für uns.“

Angesprochen auf Trumps Friedensplan sagt Nava: „Es ist wie der Anfang der Zeremonie bei einer jüdischen Hochzeit, wenn der Bräutigam und der Rabbi verschiedene Dokumente unterzeichnen, ohne dass die Braut überhaupt anwesend ist. Der Plan könnte erfolgreich sein, wenn alle Parteien an den Verhandlungen beteiligt wären.“ Ganz am Ende des Vortrags sagt Nava dann noch: „Ich hätte gerne mehr Hoffnung in mir, aber all die Dinge, die ich während der 2. Intifada erlebt habe, lassen mich noch immer im Überlebensmodus leben, und dort ist kein Platz für Hoffnung.“

Zu Besuch im ultraorthodoxen Teil Jerusalems

Shmuel Drilmann vor der Belz Great Synagoge, einer der größten Synagogen der Welt; Foto © EAPPI
Shmuel Drilmann vor der Belz Great Synagoge, einer der größten Synagogen der Welt; Foto © EAPPI

Als die erste EAPPI-Gruppe überhaupt bekommen wir eine Führung durch ultraorthodoxe Stadtteile Jerusalems. Auch für unseren Begleiter Shmuel war eine Gruppe wie die unsere eine absolute Neuheit.

Shmuel Drilman ist ein charedischer Jude aus dem aschkenasischen, litauisch-jeschiwischen Judentum. Wie die meisten männlichen Charedim besuchte Shmuel eine  Yeshiva, eine jüdische Hochschule, in der die Thora und der Talmud studiert werden. Shmuels Yeshiva heißt Yeshiva Ohr Elchonon und wurde nach Rabbi Elchonon Wassermann benannt, der während des Zweiten Weltkriegs in Litauen umgebracht worden war. Ungefähr 10 Stunden am Tag lernen die 200 männlichen Studenten in der Yeshiva.

Rabbi Elchonon Wassermann und seine Familie, Bildersammlung in der Yeshiva Ohr Elchonon; Foto © EAPPI
Rabbi Elchonon Wassermann und seine Familie, Bildersammlung in der Yeshiva Ohr Elchonon; Foto © EAPPI

Shmuel erzählt uns, dass viele der Studierenden heiraten, nachdem sie die Yeshiva abgeschlossen haben, sich dann aber noch weitere Jahre dem Thora-Studium widmen. Shmuel und seine Frau zogen damals wie viele andere Charedim nach der Hochzeit in die Siedlung Betar Illit nahe Bethlehem, da dort das Leben viel günstiger als in Jerusalem ist. Da viele charedische Männer nicht arbeiten, sondern sich dem Thorastudium widmen, werden diese Familien vom Staat unterstützt, Shmuel spricht von etwa 250 Euro im Monat. Er berichtet weiter, dass im nationalen Vergleich überdurchschnittlich viele Frauen aus der chadischen Gemeinschaft arbeiten und so zum Lebensunterhalt der Familien beitragen. Die Bildung von charedischen Frauen, so Shmuel, verlaufe ähnlich dem säkularen israelischen Bildungssystem, jedoch besuchten auch sie oft keine höheren Schulen. Problematisch sei allerdings, dass charedische Frauen weniger als Männer verdienen und dass dies von Rabbinern unterstützt würde, da der Mann das Familienoberhaupt sei.

Der Eingang zu einer Wohnung im Parkhaus; Foto © EAPPI
Der Eingang zu einer Wohnung im Parkhaus; Foto © EAPPI

Auf unserer Tour durch das Viertel führte uns Shmuel auch in ein Parkhaus, wovon wir anfänglich etwas verwirrt waren. Doch die Auflösung folgte schnell: Aufgrund der in Israel und besonders in Jerusalem extrem hohen Lebenshaltungskosten wird offenbar alles zu Wohnraum verwandelt, was ein Dach hat. In besagtem Parkhaus leben viele junge Familien, in denen der Ehemann noch mit dem Thora-Studium beschäftigt ist. Auch Geschäfte finden sich in diesem unterirdischen Paralleluniversum.

Wie überall, so Shmuel, ändert sich auch in der charedischen Gesellschaft vieles. Mehr Männer beginnen zu arbeiten, Frauen bekommen eine höhere Schulbildung, Handys, moderne Medien und Technik verbreiten sich.

Natürlich wollten wir auch wissen, wie die Charedim zur Besatzung stehen: „Der Konflikt ist nicht Teil unseres täglichen Lebens, wir haben genug Probleme in unserer eigenen Gesellschaft, um die wir uns kümmern müssen. Aber auch hier ändert sich die Sichtweise, da die Behandlung der Palästinenser durch Israel sich teilweise in der Behandlung von uns in der israelischen Gesellschaft widerspiegelt“, sagt Shmuel. Und dann fügt er noch hinzu: „Meine Familie wohnt hier seit 12 Generationen. Wir waren vor diesem Konflikt hier und wir werden auch danach hier sein“.

Unsere Gruppe hat definitiv einiges an Aufmerksamkeit auf dieser Tour erhalten. Shmuel wurde mehrmals darauf angesprochen, dass wir Frauen Hosen anhaben. Auch wurde ihm gesagt, dass er eine falsche Jacke für das Auftreten in der Öffentlichkeit trage. „Seht ihr, so streng ist das Leben hier!“, kommentierte er.

Ich halte die Betrachtung von möglichst vielen Seiten eines Konflikts für essentiell in der heutigen Zeit. Alles in Allem war diese Woche mit all den verschiedenen Begegnungen daher hoch interessant und sehr bereichernd für meinen Aufenthalt und mein generelles Verständnis der Situation.

Charlotte, im Februar 2020

Ich nehme für pax christi – Deutsche Sektion am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die von Pax Christi oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1]              Die Wehrpflicht in Israel gilt für Männer und Frauen, außer für Mitglieder der arabisch-israelischen und der ultra-orthodoxen Gemeinschaften. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Ausnahmeregelungen.

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