Erinnerungskultur

Janusz Korczak und die Ghettokinder – Skulptur in Yad Vashem
Janusz Korczak und die Ghettokinder – Skulptur in Yad Vashem

Yad- Vashem – das Denkmal der Namen, das Museum des Holocaust. Der Besuch, gemeinsam mit unserer gesamten EAPPI- Gruppe, war eindrucksvoll. Die Historie ist mir weitgehend bekannt, aus dem Geschichtsunterricht, von den Besuchen in KZ- Gedenkstätten, aus Büchern. Auch in Herford haben wir uns mit den Namen der Opfer beschäftigt, die die Nationalsozialisten aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgen wollten. Am eindrücklichsten war mir hier das „Denkmal für die Kinder“ – in völliger Dunkelheit brennen fünf Kerzen, deren Lichter durch viele Spiegel unzählbar oft reflektiert werden – wie ein Sternenhimmel. Dazu werden die Namen, die Nationalität und das Alter der ermordeten Kinder vorgelesen – drei Monate braucht das Tonband für alle.

Ein gutes Museum, wissenschaftlich und didaktisch auf höchstem Stand. Wir wurden von Tamar Avraham durch die Ausstellung geführt, mit vielen Hintergrund-informationen. Als ein Beispiel für die objektive Wissenschaftlichkeit des Museums erwähnte sie, dass die Ausstellungsmacher darauf verzichtet haben, mit einem großen Bild von Amīn al-Ḥusainī Stimmung gegen Palästinenser zu machen, wie es sich manche Politiker wohl wünschten: Al- Husaini, der als Großmufti von Jerusalem Hitler hofiert hatte, stand damals im Kampf gegen die Engländer als Kolonialmacht und gegen die Einwanderung der Zionisten in sein Land – deshalb sympathisierte er mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Sein Bild und seine Geschichte sind im Museum aufgenommen, aber an nicht herausgehobener Stelle.

Die Erinnerung ist wichtig, und sie wird hier gepflegt. Denn Erinnerung hat immer auch mit der Gegenwart zu tun. Das Trauma des Holocaust ist noch heute spürbar – z.B. in der Angst, die bei jedem Terrorakt wieder aufbricht.  Von dem Gefühl, dass der Holocaust weitergehe, erzählte uns ein orthodoxer Jude, den wir besucht haben. Das Yad-Vashem – Museum macht deutlich, dass der Holocaust einzigartig war – die Terrorakte, die heute verübt werden, sind weit von dem industrialisierten Massenmord in den Vernichtungslagern entfernt. Kann die Auseinandersetzung mit der Geschichte auch eine Art Traumabearbeitung sein?

Ein weiterer Ort der Erinnerung steht allerdings in der Gefahr, zu verschwinden: Für das Gedächtnis an die Nakba, die Vertreibung und Flucht von Palästinensern in der Zeit der Staatsgründung Israels, gibt es kein großes Museum. Aber die Ruinen eines Dorfes konnten wir besichtigen: Lifta hieß der Ort in einem wunderschönen Tal,  am Stadtrand des heutigen Westjerusalems gelegen[1]. Wir müssen einen steilen, nur schlecht befestigten Weg hinabgehen, bis wir zu den Häusern kommen, die hier langsam von der Natur überwuchert werden. Wir sehen die Ruinen der Moschee dieses Dorfes, eine Ölpresse – es war ein recht reiches Dorf, mit vielen Obstbäumen.  Die Einwohner verkauften die Früchte nach Jerusalem – ob an Juden oder Muslime, spielte damals noch keine Rolle, erzählte uns Tamar Avraham, die uns auch hier führte.

Die Ruinen von Lifta am Rand von West-Jerusalem
Die Ruinen von Lifta am Rand von West-Jerusalem

Aber: Als im November 1947 in Folge des UN-Teilungsplans die Spannungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen im damaligen Mandatsgebiet Palästina zwischen jüdischen und arabischen Kämpfern zunahmen, stellte das Dorf, das zwischen dem israelischen Küstenstreifen und dem Zentrum Jerusalems lag, ein strategisches Hindernis für die jüdischen Militärgruppen dar[2]. Mitglieder der jüdischen Stern Gang („Lechi“) kamen im Dezember 1947 in das Dorf, eröffneten mit ihren Maschinengewehren das Feuer, töteten sechs Menschen und zogen wieder ab. Die Dorfbewohner merkten, dass es für sie keinen Schutz mehr gab, und verließen das Dorf. Später wurde ihnen die Rückkehr verwehrt. Sie und ihre Nachkommen wohnen wohl größtenteils im Flüchtlingslager Schuafat, erzählte uns Tamar Avraham. Das Flüchtlingslager Schuafat ist inzwischen durch die Mauer von Jerusalem abgetrennt worden – für die Menschen dort fühlt sich heute außer dem UN – Flüchtlingshilfswerk wohl niemand mehr zuständig.

Heute nutzen orthodoxe Juden aus der Nachbarschaft das Bassin in Lifta zum Baden
Heute nutzen orthodoxe Juden aus der Nachbarschaft das Bassin in Lifta zum Baden

Aber die Ruinen der Häuser in Lifta stehen noch. Mir kommt es als ein Gottesgeschenk vor, dass in diesem Tal noch nicht gebaut worden ist: Pläne dafür liegen vor. Hotels würden in dieses schöne Tal passen. Aber jüdische Verbände haben sich für den Erhalt eingesetzt. Jüngst wurde mir von Aktivisten aus Westjerusalem erzählt, dass das Gericht die aktuellen Bebauungs-pläne verworfen habe. So bleiben die Ruinen stehen, und mit ihnen die Quelle, die von den Dorfbewohnern vor Jahren zu einem kleinen Bassin aufgemauert wurde. Sie wird nun von orthodoxen Juden aus der Nachbarschaft zum Baden genutzt – nach ihrem Brauch ist natürliches Quellwasser für rituelle Waschungen nötig. Wenn hier Hotels stehen würden, wäre die Quelle auch für sie unzugänglich. So können wir hoffen, dass diese Ruinen stehenbleiben können als eine Erinnerung an das, was Menschen hier angetan worden ist – und dass dieses Tal mit Hinweistafeln, besser befestigten Wegen und Müllentsorgung vielleicht einst ein offizieller Erinnerungsort werden kann. Und vielleicht können irgendwann palästinensische und israelische Kinder gemeinsam das frische Quellwasser von Lifta genießen.

Berthold, August 2017

[1] Siehe dazu auch: https://blog.br.de/studio-tel-aviv/2015/09/08/lifta.html

[2] http://www.zochrot.org/en/village/49239

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