Eine persönliche Geschichte von “Sumud”

Während meines ersten Einsatzes mit EAPPI im Jahr 2013 gehörte es zu unseren Aufgaben, Familien in besonders schwierigen Lebenssituationen zu besuchen, ihre Belange anzuhören und in Form von Berichten an die Öffentlichkeit weiterzutragen. Im Rahmen dieser Tätigkeit besuchte ich 2013 auch mehrere Familien in Hebron, genauer in H2, dem Gebiet unter vollständiger israelischer Kontrolle. Die Familie von Hashem Al Azzeh gehörte damals zu den von uns sehr häufig besuchten Familien.

Nisreen in ihrem Garten in Tel Rumeida, © EAPPI
Nisreen in ihrem Garten in Tel Rumeida,
© EAPPI

Jetzt, fünf Jahre später, traf ich sie wieder. Dieses Mal begegnete ich jedoch nur Frau Nisreen Al Azzeh und ihren Kindern. Ihr Mann Hashem Al Azzeh starb  2015 an einem Herzinfarkt in Folge eines Einsatzes von Tränengas in seinem Garten durch israelische Soldaten. Nisreen ist davon überzeugt, dass die Hauptursache für den Tod ihres Ehemanns unterlassene Hilfe war.

Nisreen trafen wir in ihrem Haus in Tel Rumeida. Ihr direkter Nachbar ist Baruch Marzel, einer der bekanntesten Siedler in Hebron. Marzel gründete 2004 die rechtspopulistische Partei “Jewish National Front” und war zudem Aktivist und später Leiter des Sekretariats der ultranationalistischen Partei “Kach“, die unter anderem eine klar anti-arabische bzw. anti-palästinensische Agenda vertrat. 1988 wurde Kach aufgrund der Aufwiegelung zum Rassismus von den Wahlen zur Knesset ausgeschlossen. 1994 wurde “Kach”[1] selbst von Israel als Terrororganisation eingestuft.[2] Baruch Marzel wohnt mit seiner Familie direkt oberhalb der Familie Al Azzeh.

Nisreen unterrichtet an einer Schule für gehörlose Kinder. Eigentlich hat sie Kunst in Amman studiert und malt Bilder über die Besatzung, ihr Leben und palästinensische Traditionen. Sie träumt viel von Frieden und Freiheit. Sie erzählt mir von ihrem Leben, von den beiden Intifadas und den andauernden Ausgangssperren. Von ihrem Leben in Tel Rumeida mit ihrem Mann Hashem, von seinem Tod, von der erdrückenden Isolation und den täglichen Schikanen durch die israelische Besatzung und die Siedler*innen.

Sie berichtet aber auch von ihrem persönlichen Widerstand und ihrer unermüdlichen Standhaftigkeit, im palästinensischen Kontext auch “sumud” auf Arabisch genannt. Laut einer Studie[3] ist “sumud” ein nationales, palästinensisches Konzept der Entschlossenheit, trotz aller Beschwerlichkeiten und Herausforderungen im und auf dem Land zu bleiben. Somit werden die bloße Existenz und das Bleiben zum Widerstand. „Sumud“ hat aber laut der Studie viele weitere Aspekte, wie etwa den Erhalt palästinensischer Traditionen, Lebensfreude trotz schwieriger Umstände, Gemeinschaft und Zusammenhalt. So soll „sumud“ vor allem auch zum Erhalt von menschlicher Würde beitragen und Formen der Unterdrückung entgegentreten.

Hashem schaut 2013 von seinem Garten auf Baruch Marzels Haus, © EAPPI
Hashem schaut 2013 von seinem Garten auf Baruch Marzels Haus, © EAPPI

Nisreens Mann Hashem war gewaltfreier Aktivist und berichtete mir damals von seinen Ideen. Er wollte gewaltfreie Massenproteste mit anderen Palästinensern initiieren, um die lokale Gemeinschaft zu stärken und die internationale Gemeinschaft für die Auswirkungen der Besatzung zu sensibilisieren. Häufig waren internationale und israelische Friedensaktivist*innen Gäste der Familie. Gruppen wurden in ihr Haus geführt, um aus erster Hand etwas über die Zustände in Tel Rumeida zu erfahren. Ihr Zuhause zu verlassen und in einen weniger belasteten Stadtteil von Hebron zu ziehen, stand für Hashem und Nisreen nicht zur Diskussion. 2013 sagte Hashem: “Wir glauben an unser Recht, unser Haus zu verteidigen.” Er hat es verteidigt, bis in seinen Tod.

Nisreen spricht detailliert von dem Tag, an dem ihr Mann starb. Er hatte eine italienische Solidaritätsgruppe zu Besuch. Hashem war an diesem Tag sehr erschöpft und hatte Atemprobleme. Die Soldaten in Tel Rumeida kannten Hashem. Nisreen ist davon überzeugt, dass dem Militär auch seine gesundheitlichen Probleme bekannt waren und die Soldaten hätten wissen müssen, dass Tränengas für ihn gefährlich sein könnte. An diesem Nachmittag aber feuerten sie Tränengas in den Garten der Familie und es verteilte sich auch im Haus. Laut Nisreen gab es keinerlei Auslöser für diesen Übergriff, in ihren Augen war es reine Schikane. Kurz darauf fand Nisreen ihren Mann bewusstlos auf, er hatte einen Herzinfarkt. Nisreen versuchte verzweifelt, einen Krankenwagen dazu zu bewegen, ihn abzuholen, obwohl sie wusste, dass palästinensische Krankenwagen nicht nach H2 fahren dürfen. Ihnen wird der Zugang am Checkpoint nach Tel Rumeida verweigert, da es palästinensischen Fahrzeugen nicht erlaubt ist, in H2 zu fahren. Israelische Krankenwagen fahren in H2 und sind nicht einmal einen Kilometer von Hashems Haus stationiert. Sie werden von Siedlern aus Hebron gefahren und bedienen ausschließlich die Siedlungen.

Aufgrund dieser Umstände gab es auch 2015 keinen Weg, Hashem Al Azzeh schnell in ein Krankenhaus zu bringen. Letztlich trugen junge Männer aus Tel Rumeida Hashem in einer Decke zum Checkpoint, um ihn in ein Krankenhaus im palästinensisch kontrollierten H1 zu bringen. Am Checkpoint wurden sie, so Nisreen, von den israelischen Soldaten ungefähr zehn Minuten lang festgehalten. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb Hashem in einem Taxi.

Nisreen inmitten ihrer Zeichnungen, © EAPPI
Nisreen inmitten ihrer Zeichnungen, © EAPPI

Nach dem Tod ihres Mannes durften keine Familienmitglieder, die außerhalb von H2 wohnen, Nisreen und die Kinder besuchen[4]. Demzufolge erlebte Nisreen eine extreme Vereinsamung. Sie erzählte mir, dass sie sich irgendwann entschlossen hatte, mutig zu sein und die Arbeit ihres Mannes für ein Ende der Besatzung weiterzuführen. Sie öffnete sein E-Mail-Postfach und seinen Facebook-Account mit Hilfe von Jugendlichen und begann, Englisch zu lernen, um mit internationalen Kontakten und Aktivist*innen kommunizieren zu können. Sie wollte allen von den Umständen des Todes ihres Mannes berichten. Von spanischen Aktivist*innen wurde sie eingeladen, im katalanischen Parlament zu sprechen und ihre Geschichte zu erzählen. Sie sagt, sie sei stolz, als palästinensische Frau der Welt von ihrem Leben unter Besatzung berichten zu können.

Nisreen erzählt mir auch, dass Baruch Marzel sie immer wieder fragt, wo denn Hashem sei, wenn er sie im Garten sieht. Marzel weiß natürlich, dass Hashem gestorben ist. Diese und andere Schikanen sind für Nisreen Versuche, der Familie das Leben in Tel Rumeida unmöglich zu machen und sie dazu zu bringen, wegzugehen. Nisreen berichtet, dass Baruch Marzel und andere Siedler sie, ihre Kinder, und zu seinen Lebzeiten auch Hashem, körperlich angegriffen haben. Außerdem bewerfen sie nicht nur Nisreens Grundstück, sondern auch sie direkt mit Müll, Urin, Fäkalien und Bleichmittel.

Als ich Hashem 2013 traf, sagte er über den Einsatz für ihre Rechte als Palästinenser: “Du kannst nicht um dein Recht bitten, du musst es dir nehmen. 46 Jahre lang haben wir um unser Recht gebeten und Nichts ist passiert. Wir verlangen kein Geld. Wir sind Menschen, die ihre Freiheit verlangen.”

Hashem wurden, so erzählte er damals, viele Male hohe Beträge angeboten, von Siedler*innen  oder Personen, die die Siedlungen finanziell unterstützen, um aus dem Haus auszuziehen, damit es von Siedler*innen übernommen werden könnte. Nisreen berichtet, dass Hashem immer sagte, nur über seine Leiche ziehe er aus Tel Rumeida weg. Der Geist seiner Standhaftigkeit blieb über seinen Tod hinaus und Nisreen sagt, auch sie werde bleiben. Ihr Leben gehört diesem Ort, diesem Haus, allen Erinnerungen, denn auch die süßen Erinnerungen an die Zeit mit ihrem Mann sind hier verwurzelt.

Milena, Oktober 2018

 

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] The Israeli Democracy Institute, Kach (22.10.2018):  https://en.idi.org.il/israeli-elections-and-parties/parties/kach/

[2]Cabinete Communique-March 13.1994: http://mfa.gov.il/MFA/AboutIsrael/State/Law/Pages/Cabinet%20Communique%20-%20March%2013-%201994.aspx

[3] Institute for Palestine Studies (Washington, USA), Jerusalem Quarterly Ausgabe 59: Rijke & van Teefelen. To exist is to resist: http://www.palestine-studies.org/sites/default/files/jq-articles/To%20Exist%20to%20Resist_JQ%2059.pdf

[4] Die Familien können keinen Besuch von Palästinenser*innen erhalten, die nicht als Anwohner*innen im Sperrgebiet registriert sind.UN OCHA (Februar 2018): https://www.ochaopt.org/sites/default/files/h2_fs_2018_v5_english11.pdf

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