Ein Leben ohne Notruf

Schutzlos im Wadi al-Hussein

Häuser palästinensischer Familien unterhalb der Siedlung Kiryat Arba
Häuser palästinensischer Familien unterhalb der Siedlung Kiryat Arba

Wenn wir um unser Leben und das unserer Kinder fürchten, dann wählen wir den Notruf. Wenn dutzende bewaffnete und feindselige Nachbarn in unserem Garten stehen, uns mit Steinen und Molotowcocktails bewerfen, dann kommt wahrscheinlich mehr als nur die Polizei. Wenn der Palästinenser Kayed Daana in diesem Fall den israelischen Notruf wählt weiß er nicht, ob die Polizei überhaupt kommt, und wenn sie kommt, ob sie ihm hilft. „Der einzige, der uns beschützt, ist unser Gott“ sagt Kayed. Denn die Grundstücke von Kayed Daana und seiner Kinder grenzen an den Sicherheitszaun der Siedlung Kiryat Arba.

Die Familien von Kayed Daana, von Rani Jabari, Jamal Saifen und Naamen Daana leben im Wadi al-Hussein bei Hebron. Das Tal zählt seit 1997 zur Zone H2, dem israelisch kontrollierten Gebiet von Hebron. Es befindet sich unmittelbar unterhalb von Kiryat Arba, einer der größten und ältesten illegalen israelischen Siedlungen in Palästina. Nach Artikel 49 der IV. Genfer Konvention ist es einer Besatzungsmacht untersagt „Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet zu deportieren“ oder umzusiedeln. Trotz dessen ist Kiryat Arba seit 1968 für Palästinenser in Hebron bittere Realität. 1994 verübte Baruch Goldstein, Einwohner von Kiryat Arba, ein Massaker an muslimischen Gläubigen im Grab der Vorväter in Hebron. In der Siedlung wurde ihm ein Denkmal errichtet. Sein Geist lebt im radikalen Gedankengut vieler Einwohner Kiryat Arbas fort. Die palästinensischen Familien in der direkten Nachbarschaft zur Siedlung bekommen dies am häufigsten zu spüren. Für sie gehören wiederkehrende, über Nächte andauernde Attacken durch israelische Siedler aus Kiryat Arba auf ihre Angehörigen, ihre Häuser und ihr Eigentum zum traurigen Alltag.

Die Familien im Wadi al-Hussein sind diesen Attacken schutzlos ausgeliefert. Palästinensische Sicherheitskräfte dürfen hier nicht tätig werden, die israelischen Behörden sehen sich den Siedlern verpflichtet. Das dürfte nach internationalem Recht aber nicht der Fall sein. Sowohl das Humanitäre Völkerrecht als auch die Menschenrechte verpflichten Israel zum Schutz der unter seiner Besatzung lebenden Palästinenser. Die Siedler, die israelische Armee und auch die israelische Polizei interessiert das wenig. Zum Leidwesen aller Familien im Wadi al-Hussein.

Manal und ihr Vater Naamen Daana im Haus der Familie im Wadi al-Hussein
Manal und ihr Vater Naamen Daana im Haus der Familie im Wadi al-Hussein

Nach Tagen anhaltender Siedlergewalt haben wir uns gemeinsam mit Manal Daana, Mitarbeiterin der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem, auf den Weg gemacht diese Familien zu besuchen. Nach vielen Tees und Kaffees, unzähligen Spielchen mit den Kindern und nach so viel Gastfreundschaft in einer so bedrückenden Zeit, haben sie ein erschreckendes Bild der letzten Nächte gezeichnet. Während Rani Jabari abwinkt und berichtet, seine Familie sei „nur von Steinwürfen“ betroffen, berichtet Jamal Siafen von zwei Nächten in Folge, in denen bis zu vierzig Siedler sein Haus und seine Familie mit Steinen, Molotowcocktails und einer ätzenden, stinkenden Substanz beworfen haben. Der israelische Soldat, der am Seiteneingang der Siedlung üblicherweise seinen Posten hat, griff nicht ein. Er begleitete die Siedler und schaute zu.

Eine unserer ersten Lektionen in Hebron bestand darin, dass Unfassbares meist noch übertrumpft werden kann. So auch im Fall von Kayed Daana und seiner Familie. Kayed Daana ist müde. Er hat die letzten Nächte vor Sorge und Angst um seine Familie kaum geschlafen. Vier Nächte in Folge haben Siedler sein Haus attackiert. Sie hatten keinen weiten Weg, denn sein Garten ist nur durch den Sicherheitszaun von Kiryat Arba getrennt. So müssen die Siedler Kiryat Arba nicht mal verlassen, um ihn zu attackieren. Wieder warfen sie Steine, Flaschen und Brandsätze. Kayed Daana war aus Sorge um seine Familie und die Kinder vier Tage nicht aus dem Haus gegangen, die Kinder ebenso wenig zur Schule. Die Polizei hatte er mehrfach verständigt und sie kam auch. Die israelischen Beamten schauten sich die Randale eine Weile an und verschwanden wieder. Keine Verhaftungen, keine Ermittlung, nicht einmal ermutigende Worte. Doch ebenso wie die Zerstörungen an seinem Haus ist all das nebensächlich geworden, das einzige was für ihn zählt ist: „Hauptsache meine Kinder bleiben gesund!“. So hat Kayed auch schon lange den Glauben an ein friedliches Zusammenleben verloren, er wünscht sich mittlerweile, die israelischen Behörden würden die acht Meter hohe Betonmauer, die vielerorts Israelis von Palästinensern trennt, mitten durch seinen Garten ziehen. Wie verzweifelt muss man sein?

Naamen Daana zeigt uns die eingeworfene Fensterscheibe in seinem Schlafzimmer
Naamen Daana zeigt uns die eingeworfene Fensterscheibe in seinem Schlafzimmer

Auch Manals Vater, Naamen Daana, wohnt Fenster an Zaun mit Kiryat Arba. Auch Naamen hat vier Nächte lang nicht schlafen können. Sein Schlafzimmerfenster wurde von Siedlern mit Steinen eingeworfen. Die Gitter vor dem Fenster sind schlichtweg zu großzügig, sodass Steine mitten in der Nacht fast in seinem Ehebett landeten. Naamen hat schon viele Auseinandersetzungen zwischen israelischen Sicherheitskräften, Siedlern und Palästinensern erlebt. Häufig kommen dabei auch Tränengas, Gummimantelgeschosse und scharfe Munition zum Einsatz. Trotz des hohen Risikos für Leib und Leben will er sich nicht aus seinem Haus vertreiben lassen. Er sagt: „Trotz dessen bekommen sie mich aus diesem Haus nur liegend heraus!“.

Als wir gehen wollen können wir nicht, der Ausgang ist versperrt. Junge Siedler stehen am Zaun und spielen ohrenbetäubende Musik, einige von ihnen sind maskiert, einer spielt mit einer Steinschleuder. Manal errötet und ärgert sich. Sie spielen Musik, die den Propheten Mohammed verhöhnt und beleidigt. „Nur Muslime können verstehen, wie sehr uns das verletzt“. Dieses eine Mal geben wir ihr nicht Recht. Auch wir fühlen uns provoziert, aber nicht als Muslime sondern als Menschen, die nicht verstehen können, wie man so respektlos und unmenschlich aus einer Position der Stärke heraus andere diskriminiert. Wieder kommt keine Hilfe, wieder werden Siedler die Häuser attackieren und wieder wird es eine schlaflose Nacht in Angst. Wir können an diesem Tag über Umwege nach Hause gelangen. Für die Familien im Wadi al-Hussein ist dies das Zuhause. Seit 45 Jahren.

Prokop, Oktober 2015

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