Die Stadt der trauernden Mütter

Salaam, Mutter von Aala (26), Amir (21) und Ahmed (15). Alle drei saßen oder sitzen in israelischen Gefängnissen. (Photo: EAPPI)
Salaam, Mutter von Aala (26), Amir (21) und Ahmed (15). Alle drei saßen oder sitzen in israelischen Gefängnissen. (Photo: EAPPI)

Azzun ist ein kleiner Ort mit ungefähr 8.000 Einwohnern in der Nähe von Qalqiliya. Die Stadt liegt in unmittelbarer Nähe zur israelischen Sperranlage und zu mehreren, nach internationalem Recht illegalen israelischen Siedlungen. Unser Kontakt vor Ort, Hassan, der in der Stadtverwaltung von Azzun arbeitet und für minderjährige Gefangene zuständig ist, erzählt uns, dass seine Stadt die höchste Zahl von palästinensischen Kindern in israelischen Gefängnissen aufweist, Ost-Jerusalem ausgenommen. Allein seit Beginn diesen Jahres saßen ihm zufolge 21 Kinder aus Azzun im Gefängnis, im Moment sind es 7, die 14 anderen wurden nach ein paar Wochen, manche nach ein paar Monaten wieder entlassen. Häufig mussten die Familien laut Hassan hohe Entschädigungssummen aufbringen.

Wir treffen Hassan beinahe jede Woche in Azzun. Jedes Mal erzählt er uns von neuen Verhaftungen. Diese ereignen sich oft mitten in der Nacht. Schwer bewaffnete Soldaten verschaffen sich Zutritt zu Familienhäusern, brechen die Haustüren auf, wecken alle Bewohner und bringen sie in einen Raum des Hauses. Dort müssen sie für den Rest des Einsatzes  – meist mehrere Stunden – ausharren, oft wird laut Hassan auch das Aufsuchen einer Toilette untersagt. Dann werden die Familienmitglieder in einem separaten Raum der Reihe nach befragt. Auch die kleinen Kinder. Die Soldaten hofften vielleicht, so interpretiert es Hassan, von den Kindern belastende Aussagen zu Angehörigen zu bekommen. An anderen Tagen dringen die Soldaten in Häuser ein, um bestimmte Personen zu verhaften. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Minderjährige. Die ganze Familie wird unsanft aus dem Schlaf gerissen und steht einer Gruppe von schwer bewaffneten Soldaten gegenüber. Im eigenen Schlafzimmer. Oft, so Hassan, geben die Soldaten Befehle auf Hebräisch, einer Sprache, die viele Bewohner Azzuns gar nicht sprechen. Nach den Einsätzen leiden einige Bewohner, vor allem die Kinder, unter Schlafproblemen. Einige machen noch im Alter von 10, 12 Jahren ins Bett. Eine ganze Generation traumatisiert.

Alle Einwohner der Westbank unterstehen theoretisch israelischem Militärrecht, da es sich um ein besetztes Gebiet handelt. De facto wird bei Siedlern jedoch israelisches Zivilrecht angewandt, so dass in der Westbank zwei Rechtssysteme, je nach Herkunft, zum Tragen kommen. Dies betrifft auch Kinder und Jugendliche. So wäre die strafrechtliche Behandlung eines Kindes aus einer israelischen Siedlung sehr verschieden von der Behandlung eines palästinensischen Kindes unter Militärrecht, selbst wenn beide des gleichen Vergehens beschuldigt werden würden[1]. Im Februar 2013 veröffentlichte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) den Bericht „Children in Israeli Military Detention“[2]. UNICEF kommt in diesem Bericht zu folgendem Schluss:  „Die unwürdige Behandlung von Kindern, die in Kontakt mit dem Militärhaftsystem kommen, erscheint weit verbreitet, systematisch und institutionalisiert, von dem Moment der Festnahme bis zur Anklage des Kindes und schließlich dem Schuldspruch und der Festsetzung des Strafmaßes.“ In Augenschein genommen wurden von UNICEF die Umstände von Verhaftung, Verhör, Inhaftierung und Verurteilung palästinensischer Kinder unter israelischem Militärrecht. Zahlreiche Verstöße gegen international anerkannte Kinderrechte wurden festgestellt. Daher sprach UNICEF gegenüber den zuständigen israelischen Behörden 38 Empfehlungen aus, die eine würdigere Behandlung im Falle einer Strafverfolgung gewährleisten sollten. Einige kleinere Änderungen hat es seither gegeben[3]. Im Großen und Ganzen ist die Situation aber bis heute beinahe unverändert, wie Nachforschungen der Organisation Military Court Watch zeigen[4].

In Azzun liegen Freud und Leid oft nah beieinander. Als wir Hassan vor einigen Wochen besuchten erzählte er uns von einem jungen Mann, Amir, der am selben Tage nach einem Jahr Gefängnis entlassen wurde. Hassan schlägt vor, die Familie zu besuchen. Als wir uns dem Haus der Familie nähern, hören wir schon die Musik. Die ganze Straße ist geschmückt. Viele Leute aus der Nachbarschaft haben sich versammelt, um die Rückkehr von Amir zu feiern.  Die Männer sitzen draußen in der Garage und grillen im Freien. Im Haus sitzen die Frauen zusammen und feiern die Rückkehr des Sohnes, des Bruders, des Cousins. Alle sind glücklich. Die Familie empfängt uns freudig, Salaam, die Mutter von Amir, schenkt uns Tee, Kaffee und Saft ein. Ein paar Leckereien stehen auf dem Tisch bereit.

Doch nur zwei Tage später ruft uns Hassan wieder an. Er berichtet uns, dass in der Nacht Ahmed, der 15-jährige Bruder von Amir, verhaftet wurde. Schwer bewaffnete Soldaten hätten das Haus gestürmt, und Ahmed aus dem Bett heraus verhaftet.[5] Er soll Steine geworfen haben. Wir besuchen die Familie erneut. Die Stimmung ist bedrückend. Salaam ist am Boden zerstört. Obwohl Ahmed erst 15 Jahre alt ist, ist dies bereits seine dritte Verhaftung. Salaam ist eine starke Frau, nun aber ist sie verzweifelt: Sie weiß nicht, wohin die Soldaten ihren Sohn gebracht haben. Man hat ihr auch nicht gesagt, wann sie ihn wiedersehen kann. Sie fühlt sich so hilflos, sagt sie.

Humanitarian Atlas UNOCHA-OPT
Humanitarian Atlas UNOCHA-OPT

Hassan hat uns erzählt, dass Amir, der ältere Sohn, verhaftet wurde, weil er Steine geworfen haben soll. Die meisten verhafteten Minderjährigen in Azzun sind mit diesem Vorwurf konfrontiert. Immer ist es das Steinewerfen. Die Schärfe des Urteils hängt Hassan zufolge von den Richtern ab. Manchmal gibt es dafür 4 Monate, manchmal 7, manchmal ein Jahr. Hassan erzählt uns, dass tatsächlich einige Jungen in der Stadt Steine werfen, auf Autos mit israelischem Nummernschild. Die kleine Stadt liegt direkt an einer Überlandstraße, die mehrere Siedlungen mit Israel verbindet. Hassan ist der Ansicht, dass die alltäglichen Erlebnisse unter Besatzung, insbesondere die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Jungen dazu bringen, Steine zu werfen. Die israelische Armee sei in Azzun jeden Tag präsent. Oft gäbe es sogenannte „flying checkpoints“, die aus dem Nichts auftauchen und nach einigen Stunden wieder verschwinden. An anderen Tagen wird die Stadt regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten, große gelbe Barrieren sind dann an allen Ein- und Ausgängen aufgebaut, damit niemand die Stadt verlassen oder betreten kann. Dazu die nächtlichen Übergriffe der Armee.

Amir auf der andern Seite, davon ist Hassan überzeugt, hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Stein geworfen. Hassan zufolge ist er geistig beeinträchtigt.  Vor seiner Verhaftung arbeitete er als Straßenreiniger. Als er die Straße in der Nähe eines israelischen Wachpostens fegte, habe er immerzu hinaufgestarrt, dorthin, wo die Soldaten sitzen. Hassan glaubt, dass er deshalb verhaftet wurde. Weil die Soldaten dachten, er führe etwas im Schilde. Aber so ist Amir nun mal, sagt Hassan, sein Gehirn funktioniere anders. Manchmal starre er einfach nur vor sich hin. Irgendwohin. Für Stunden. Dieser Eindruck bestätigt sich, als wir Amir zum ersten Mal sehen. Er ist ein schüchterner junger Mann, dem es schwerfällt, Blickkontakt zu halten. Oft schaut er auf den Boden. Aber ein Lächeln ist fast immer auf seinem Gesicht  zu finden. Auch nach einem Jahr Gefängnis.

Amir (21) einige Wochen nach seiner Entlassung im Garten (Photo: EAPPI)
Amir (21) einige Wochen nach seiner Entlassung im Garten (Photo: EAPPI)

Salaam erzählt uns, das sie sich Sorgen mache. Amir starre den ganzen Tag nur auf sein Handy, spiele Handyspiele. Er möchte nicht arbeiten, nicht reden, möchte einfach nur für sich sein. Seit seiner Rückkehr hatte er zweimal Besuch von einem Psychologen, Doctors without Borders sind regelmäßig in Azzun vor Ort. Salaam meint, die Besuche täten ihm gut. Sie hofft, dass der Psychologe bald wieder vorbeikommt.  Amir betritt den Raum, er lächelt verschmitzt, sagt hallo und schaut schnell wieder auf den Boden. Auf uns wirkt Amir kein bisschen wütend, kein Stück aggressiv. Eher wie ein verträumter Junge, der gerne für sich ist. Sehr freundlich und sehr zurückhaltend.  Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie es für einen Menschen wie Amir sein muss, für ein Jahr im Gefängnis zu sitzen.

Salaam hat insgesamt sieben Kinder. Fünf Jungen und zwei Mädchen. Drei ihrer Jungen saßen schon in israelischen Gefängnissen. Zusammen gerechnet über 8 Jahre. Schwer vorzustellen, was das für eine Mutter bedeuten muss. Die Ungewissheit, die Sorgen. Als wir sie zwei Wochen nach der Verhaftung von Ahmed wieder treffen, wirkt Salaam gefestigt. Sie konnte ihren Sohn zweimal sehn, wenn auch nur für kurze Zeit. Da die meisten palästinensischen Gefangenen, entgegen den Vorgaben internationaler Rechtsprechung, nicht in den besetzten Gebieten sondern in Israel inhaftiert werden, ist auch die Möglichkeit, Besuche von Angehörigen zu empfangen, äußerst eingeschränkt.  Bisher hatte er drei Termine vor Gericht, jedes Mal wurde die Anhörung verschoben. Die nächste wird Anfang September stattfinden. Salaam erzählt uns, dass Ahmed weiterhin darauf bestehe, keine Steine geworfen zu haben. Die Soldaten halten dagegen und sprechen von Videobeweisen. Weder die Familie von Ahmed noch sein Anwalt haben bisher Zugang zu diesem Videomaterial erhalten.

Ahmed ist kein Einzelfall. Laut Defence for Children International (DCI) – Palestine sitzen jedes Jahr zwischen 500 – 700 palästinensische Kinder in israelischen Gefängnissen[6]. DCI zufolge berichten die Kinder oft von körperlichem und verbalem Missbrauch, von Bedrohung und erzwungenen Geständnissen.  Internationale Aufmerksamkeit erwecken solche Geschichten meist nie. Eine Ausnahme stellt dabei der Fall Ahed Tamimi dar, dem 17-jährigen Mädchen, das einen israelischen Soldaten ohrfeigte und dafür zu 8 Monaten Gefängnis und einer Strafzahlung von 5.000 Shekel (ca. 1.200 Euro) verurteilt wurde[7]. Weltweit wurde zuerst über ihre Verhaftung und später über ihre Freilassung berichtet. Soviel Aufmerksamkeit werden den anderen ca. 350 Kindern, die in diesem Augenblick israelische Militärgefängnisse füllen, nicht zuteil.[8] In Palästina hoffen nun viele, dass der Fall Ahed Tamimi die internationale Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert hat und dass in Zukunft verstärkt über die Verhaftung von Minderjährigen sowie deren Behandlung vor Gericht und in den Gefängnissen berichtet wird.

Nicola, im August 2018

[1] http://militarycourtwatch.org/page.php?id=RyO5OsFMaZa27579A0cctVm0lxd

[2]https://www.unicef.org/oPt/UNICEF_oPt_Children_in_Israeli_Military_Detention_Observations_and_Recommendations_-_6_March_2013.pdf

[3] https://www.unicef.org/oPt/Children_in_Israeli_Military_Detention_-_Observations_and_Recommendations_-_Bulletin_No._2_-_February_2015(1).pdf

[4] http://militarycourtwatch.org/page.php?id=MmNuAkpGrsa613395AWw2bO0pT3K

[5] https://www.middleeasteye.net/news/azzoun-palestinian-village-filling-israeli-jails-children-181214404

[6] https://www.dci-palestine.org/issues_military_detention

[7] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2018/03/israelopt-palestinian-child-activist-ahed-tamimi-sentenced-to-8-months-in-prison/

[8] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2018/07/ahed-tamimi-release-a-bittersweet-moment-as-other-palestinian-children-languish-in-israeli-jails/

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