Die letzten Schäfer des Jordantals

Hayell Mahmoud in seinem Zuhause in Humsa; © EAPPI
Hayell Mahmoud in seinem Zuhause in Humsa; © EAPPI

Bereits am zweiten Tag meines Einsatzes als Ökumenische Begleiterin für das EAPPI-Programm des Weltkirchenrats lerne ich „Tornado“ kennen. Wir haben den Schäfer in der Gemeinde Humsa im Jordantal besucht, wo er seit 45 Jahren lebt. „Tornado“ heißt eigentlich Hayell Mahmoud, aber weil er so lebhaft ist wird er von allen als Wirbelwind bezeichnet. Ich treffe einen unglaublich freundlichen Mann, der unablässig lächelt und lacht. Und das, obwohl seine Lebensumstände und die seiner Familie alles andere als einfach sind.

Hayell Mahmoud ist 73 Jahre alt, hat zwölf Kinder und unzählige Enkelkinder. Seine Familie hat über Jahrzehnte die Auswirkungen der Besatzung auf unterschiedliche Art und Weise selbst erleben müssen. Für seine Familie hat Mahmoud auf seinem Land in Humsa vor über 20 Jahren  ein Haus gebaut und war seit dem wiederkehrenden Hauszerstörungen ausgesetzt. Die aus mehreren kleinen Wohnansiedlungen bestehende Gemeinde Humsa liegt in den vollständig von Israel kontrollierten C-Gebieten, welche den Großteil der Westbank ausmachen. Für die Bebauung ihrer Ländereien benötigen Palästinenser*innen hier eine Baugenehmigung der israelischen Behörden. Da diese jedoch so gut wie nie erteilt wird, müssen sie auf Bauten verzichten oder aber ohne Genehmigung bauen und jederzeit mit einem Abriss rechnen. Auch das Haus von Hayell Mahmoud wurde insgesamt dreimal zerstört, denn er hatte es stets wieder aufgebaut. Nach der letzten Zerstörung 2017 erhielt die Familie als Nothilfe von der EU eine Art Caravan, eine kleine, aus Fertigteilen zusammengesetzte Hütte. Aber auch diese wurde von den israelischen Behörden konfisziert. Das Zuhause der Familie besteht seither überwiegend aus Zelten. Lediglich ein Betongebäude konnte über die Jahre bestehen bleiben, weil es vor dem Beginn der Besatzung 1967 gebaut wurde und daher nicht abgerissen werden kann.

Hayell Mahmoud führt uns zunächst auf dem Gelände herum. Sein Zuhause steht auf einer Anhöhe, von der man einen guten Ausblick auf die Umgebung hat. Er zeigt uns einen Militärcheckpoint in unmittelbarer Nähe zu seinem Grundstück, den wir einige Zeit lang beobachten. Der Checkpoint Hamra liegt neben der gleichnamigen israelischen Siedlung, die 1971 erbaut wurde. Am Checkpoint stehen drei Soldaten, die die herbeifahrenden Autos kontrollieren. Mahmoud erzählt uns, dass die räumliche Nähe zum Checkpoint noch mehr Probleme für ihn verursacht, weil sein Wohnort dadurch an einer strategisch wichtigen Stelle für die israelischen Sicherheitskräfte steht. Laut Mahmoud planen die israelischen Behörden auf seinem Land einen Wachturm zur Sicherung des Checkpoints.

Hayell Mahmoud blickt auf den gegenüberliegenden Checkpoint Hamra; © EAPPI
Hayell Mahmoud blickt auf den gegenüberliegenden Checkpoint Hamra; © EAPPI

Seine Familie, so berichtet er, ist regelmäßigen Übergriffen durch israelische Sicherheitskräfte ausgesetzt. Immer wieder wird sein Zuhause, zumeist ohne vorherige Ankündigung, als militärisches Übungsgelände genutzt. Die Familie muss dann das Haus für eine unbestimmte Zeit verlassen, manchmal nur für ein paar Stunden, manchmal auch für einen ganzen Tag. Die Soldaten durchsuchen alles. Wonach sie suchen erfährt Hayell Mahmoud nie. Er findet uns gegenüber klare Worte zu seinen Lebensumständen: ,,Kein Land hat eine Besetzung wie wir. Wir haben kein Leben mehr und wenn wir sterben, ist es besser als dieses Leben.“

Die Gemeinde Humsa im Jordantal ist von Siedlungen und militärischem Sperrgebiet umschlossen; © UNOCHA-OPT
Die Gemeinde Humsa im Jordantal ist von Siedlungen und militärischem Sperrgebiet umschlossen; © UNOCHA-OPT

Trotz all der Schwierigkeiten bedeutet sein Zuhause dennoch alles für Hayell Mahmoud. Er ist in dieser Gegend verwurzelt und macht deutlich, dass er niemals freiwillig von hier gehen wird. Er wüsste auch gar nicht, wohin er gehen kann. Wenn die Familie ihr Land in Humsa verlassen würde, müsste sie auch das Leben als Farmer und Schafhirten aufgeben und damit einen wesentlichen Teil ihrer kulturellen Identität. Das kommt für Hayell Mahmoud und seine Familie nicht in Frage. Den Berg auf dem er wohnt, nennt er deshalb den ,,Berg des Widerstands“.

In einem der Zelte empfängt er uns mit leckerem arabischen Kaffee. Als wir Hayell Mahmoud nach der aktuellen Situation fragen berichtet er uns, dass er im Moment nur noch sehr wenig Wasser zur Verfügung hat. Obwohl es im Jordantal ausreichend Wasser gibt, ist der Zugang zu Wasser eines der Hauptprobleme für die ansässigen palästinensischen Gemeinden. Sie bekommen keine Genehmigung, um Brunnen zu bohren oder vorhandene Brunnen zu renovieren. Obwohl Hayell Mahmoud einen Brunnen hat, ist dieser für ihn nutzlos. Die weitaus tiefer gebauten Brunnen in den benachbarten israelischen Siedlungen verhindern, dass sich das Wasser in seinem Brunnen ansammeln kann. Tiefer bohren darf er nicht. Die Leitungen des israelischen Wasserversorgers Mekorot laufen teilweise über die  Grundstücke der palästinensischen Bauern und Schäfer, einen Anschluss aber bekommen sie nicht. In vielen Fällen muss Wasser teuer von Mekorot gekauft und in Tankwagen zu den kleinen Dörfern transportiert werden. So macht es nun auch Hayell Mahmoud wieder, nachdem zwischenzeitlich verlegte Wasserleitungen zerstört wurden. Jedoch berichtet er, dass er seit einigen Tagen kein Wasser mehr von Mekorot bekommen hat. Er weiß nun nicht, wie lange er von der Wasserversorgung abgeschnitten sein wird. Es ist nicht das erste Mal, dass ihm der Zugang zu Wasser verwehrt wird. Bis Hayell Mahmoud sich wieder mit Wasser versorgen kann, muss er mit den wenigen Vorräten aus seinen Wassertanks und dem angesammelten Regenwasser aus dem Brunnen auskommen.

Die Lebensumstände der Schäfer im Jordantal wurden 2012 in einer Dokumentation des arabischen Senders Al Jazeera thematisiert[1]. Auch Hayell Mahmoud ist darin kurz zu sehen, er streitet sich mit dem damaligen palästinensischen Minister für Wasser darüber, dass die Palästinensische Autonomiebehörde sich nicht ausreichend für die Menschen im Jordantal einsetzt. Hayell Mahmoud meint, dass im Nachgang zu dieser Dokumentation zahlreiche Delegationen, auch der EU, ins Jordantal gekommen seien, um sich von der Situation selbst ein Bild zu machen. Auch mit ihm und seiner Familie hätten sie gesprochen. Geändert hat sich für sie bis heute nichts.

Zeichnungen aus dem palästinensischen Alltag; © EAPPI
Zeichnungen aus dem palästinensischen Alltag; © EAPPI

Wir lernen bei unserem Besuch auch Hayell Mahmouds Schwiegertochter kennen, die an der Universität in Nablus Kunst studiert hat und in einem Nebenraum gerade ihre wunderschönen Ölgemälde aufgestellt hat. Obwohl wir uns kaum mit Worten verständigen können verstehen wir doch alles, denn sie lässt die Bilder für sich sprechen. Ihre Zeichnungen zeigen Motive aus dem Alltag der palästinensischen Gemeinden auf erschreckend realistische Weise. Auf der Leinwand festgehalten hat sie sowohl die schönen als auch die traurigen Momente des Lebens in Palästina. Einige ihrer Bilder zeigen Palästinenser bei der Farmarbeit. Auf einem anderen Bild sieht man Kinder auf dem Weg zur Schule. Es ist aber ein anderes Motiv, das mich nicht mehr los lässt: Ein Bulldozer bei der Hauszerstörung.

Zum Abschied macht Hayell Mahmoud, genannt Tornado, noch einmal lebhaft deutlich, dass er sich nicht verdrängen lassen wird. Er bekräftigt uns gegenüber mit lauter Stimme und mit den Händen gestikulierend: ,,Wir werden niemals aufgeben.“ Wir versprechen einem der letzten Schäfer im Jordantal, ihn wieder zu besuchen.

Melanie, Dezember 2018

 

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] https://www.youtube.com/watch?v=GHcFqNICoJM

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