Dem Erdboden gleichgemacht

Sechs Tage sind vergangen, seit die Jerusalemer Stadtverwaltung, das israelische Militär und die Zivilverwaltung des israelischen Militärs mit drei Bulldozern anrückten und das Haus von Raed Salameh Mahmoud Abu Tarboushs Familie und der seines Bruders zerstörten. Wir hörten davon durch eine Benachrichtigung von UNOCHA und machen uns auf den Weg, um den Familien mit einem Besuch unsere Solidarität zu zeigen.

Nur wenig weist noch darauf hin, dass hier bis vor kurzem Gebäude gestanden haben; ©EAPPI
Nur wenig weist noch darauf hin, dass hier bis vor kurzem Gebäude gestanden haben; ©EAPPI

Die Häuser, so lautet die Wegbeschreibung, hätten direkt hinter dem Checkpoint 300 auf der Ostjerusalemer Seite gestanden. Wir müssten nur die Straße überqueren und würden dort die zerstörten Strukturen vorfinden. Als wir dort ankommen halten wir Ausschau nach den Spuren der Zerstörung, doch weit und breit ist nichts zu sehen, was auf eine Haus-zerstörung hinweist. 20 Minuten suchen wir vergeblich die Umgebung ab, ehe ein Mann durch Hundegebell auf uns aufmerksam wird. Es ist der Vater von Raed.

Bulldozer während der Hauszerstörung in Khirbet Khamis, im Hintergrund die Siedlung Gilo; ©Raed Abu Tarboush
Bulldozer während der Hauszerstörung in Khirbet Khamis, im Hintergrund die Siedlung Gilo; ©Raed Abu Tarboush

Er führt uns schließlich zu dem Platz, an dem bis vor wenigen Tagen sein Zuhause war. Mehrmals sind wir an diesem zuvor vorbeigelaufen, ohne zu realisieren, dass hier vor kurzem Gebäude gestanden haben könnten. Nichts ist vom Zuhause der 13 Familienangehörigen, dem kleinen Laden, von dem aus die Familien Getränke und Frühstück an die passierenden Arbeiter verkauft haben, ihren Obs-tbäumen und den Stallungen ihrer Tiere übrig.

Um 8.30 Uhr rückten die Bulldozer an, erzählt uns Raed später in einem Gespräch. Ohne irgendeine Vorwarnung. Laut Raed hatten die Familien weder einen Abrissbefehl noch sonst eine Benachrichtigung erhalten. Er selbst war gerade auf dem Weg zur Uni in Bethlehem, wo er Rechnungswesen studiert, als seine Schwester ihn anrief. Er kehrte sofort um. Den Familien wurde keine Zeit gelassen, persönliche Dinge zu packen. Sie sollten sofort das Haus verlassen.

Angehörige suchen in den Überresten des Warenlagers nach unversehrten Produkten; ©Raed Abu Tarboush
Angehörige suchen in den Überresten des Warenlagers nach unversehrten Produkten; ©Raed Abu Tarboush

Lediglich eine Tasche mit wichtigen Dokumenten konnten sie retten, ehe der Abriss begann. Persönliche Gegenstände von Möbeln und Haushaltsgegenständen bis hin zu Kleidung und Spielzeug wurde unter den Trümmern begraben. Auch der Laden wurde einschließlich aller Einrichtung und Geräte zerstört. Lediglich das kleine Warenlager nebenan wurde vor dem Abriss von den Soldaten geleert – die Waren, die sie darin finden konnten, konfisziert. Selbst die Obstbäume der Familien wurden ausgerissen und ein kleines Areal mit Kräutern umgegraben. Raed schmerzt besonders, dass das Hühner- und Taubenhaus von den Bulldozern zerstört wurde, während die Tiere sich noch darin befanden. Normalerweise wären sie nicht mehr im Stall gewesen. Sonst ließ er die Tiere immer aus dem Stall, bevor er seinen Weg zur Uni antrat, doch an diesem Tag hatte er es vergessen, erzählt er traurig.

Vor der Zerstörung: Raed auf dem Grundstück der Familie, im Hintergrund die betroffenen Gebäude ; ©Raed Abu Tarboush
Vor der Zerstörung: Raed auf dem Grundstück der Familie, im Hintergrund die betroffenen Gebäude ; ©Raed Abu Tarboush

Das israelische Militär und die Behörden waren, so Raed, auf den Abriss gut vorbereitet. Sie hatten Wägen dabei, um die Pferde der Familien abzutransportieren. Raed versuchte mit ihnen wegen der Pferde zu verhandeln. Es gelang ihm schließlich das scheueste Pferd loszubinden, woraufhin sich auch die anderen Pferde losrissen und davon liefen. Später am Tag konnten die Familien die Pferde wieder einfangen. Die Schafe und der Hund, die aus Angst davongelaufen waren, sind seitdem spurlos verschwunden. Die Pferde sind das einzige, was den Familien geblieben ist. Als die Einheiten um 16.30 Uhr abrückten, war der Besitz der Familien dem Erdboden gleichgemacht und die Trümmer sowie alles, was sich darunter befand, vom Militär abtransportiert worden. Nur der Brunnen, der noch aus der Osmanischen Zeit stammt, ist erhalten. Um ihn unbenutzbar zu machen, hat das Abrisskommando Erde hineingeschüttet.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Familie von Raed ihr Zuhause verloren hat. Raed erzählt, dass 2014 an derselben Stelle das Haus, in dem sie lebten, schon einmal von den Behörden zerstört worden war. Es war ein altes Haus, vor 1927 gebaut – lange vor der Besatzung und sogar vor der Gründung des Staates Israel. Anfang der 1990er Jahre war die Familie dort eingezogen. Raed ist 1997 in diesem Haus zur Welt gekommen. Damals gab es den riesigen Checkpoint 300 noch nicht und auch nicht die Mauer, die das Land der Familie heute von Bethlehem trennt.

© UNOCHA
© UNOCHA

Die Karte von UNOCHA verdeutlicht sehr gut, in welch komplizierter Lage sich das Land und die Gebäude der Familie in der Gegend mit dem Namen „Khirbet Khamis“ (Mitte der Karte) befinden. Die Grüne Linie markiert die Waffenstillstandslinie zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten von 1949, die gleichzeitig international als Grundlage für die Verhandlungen bezüglich einer finalen Grenzziehung anerkannt wird. Die in der Karte südlich der Grünen Linie liegenden Bereiche markieren die palästinensischen Gebiete. Die ursprünglichen Verwaltungsgrenzen von Bethlehem sind durch die orangene Strichlinie markiert. Demnach liegt Khirbet Khamis im Verwaltungsgebiet von Bethlehem. Als 1967 die Besatzung begann und Israel die Grenzen Jerusalems unilateral in die Westbank hinein erweiterte, wurde die Stadtgrenze quasi durch Khirbet Khamis hindurchgezogen (blaue Strichlinie). Während die Ländereien zum Teil unter Jerusalemer Verwaltung fielen, bekamen die palästinensischen Bewohner*innen jedoch keine Jerusalemer Ausweise, sondern blieben in Bethlehem registriert. Die Registrierung der Gebäude in Jerusalem bedeutete, dass die Familie für jede bauliche Veränderung, Erweiterung oder Neubau eine Genehmigung der israelischen Behörden beantragen müsste, mit geringen Aussichten auf Erfolg[1].

Damals gab es noch keinen Checkpoint 300 und keine Mauer, die das Land der Familie von Bethlehem trennte. Es gab lediglich einen kleinen Checkpoint – mehr eine Straßensperre – ohne Abriegelung, der sich jedoch in Richtung Ost-Jerusalem ein Stück weit entfernt befand. Erst 2005 wurde, kurz nach der zweiten Intifada, Checkpoint 300 rund 2 km innerhalb der ‚Grünen Linie’ auf dem Gebiet Bethlehems errichtet, durch den sich die Familien plötzlich nicht mehr in, sondern außerhalb Bethlehems befand. Laut Raed steht der Checkpoint auf einem Teil des Landes der Familie, der für „public purposes“ konfisziert worden war.

Seit dem Bau des Checkpoints 300 häuften sich die Schikanen: Für das Passieren des Checkpoints in Richtung Jerusalem haben die Familien spezielle Berechtigungsscheine, die nicht mit den ‚Einreisegenehmigungen‘, die etwa Arbeiter erhalten, vergleichbar sind. Sie dürfen sich lediglich in der Nähe ihres Hauses aufhalten, nicht aber weiter nach Ostjerusalem oder Israel gehen. Tun sie dies und werden dabei erwischt, drohen ihnen Strafen. Checkpoint 300 ist der einzige Checkpoint, den sie mit der Genehmigung überqueren dürfen. An allen anderen werden sie abgewiesen. Diese speziellen Berechtigungsscheine zu erhalten war ein Kampf, für den die Familien 2007 vor Gericht gehen musste.

Raed berichtet, dass die israelische Polizei häufig gegen drei Uhr nachts in das Haus der Familien kam, um die Namen der Familienangehörigen zu überprüfen. Die Söhne wurden daraufhin zur weiteren Überprüfungen ihrer Identität mit auf ein Polizeirevier genommen. Reine Schikane, erklärt uns Raed, die Polizisten hätten die Familien gekannt und jeder von ihnen konnte sich zweifelsfrei ausweisen. Im Anschluss wurden sie auf der Bethlehem Seite abgesetzt, so dass sie, um nach Hause zu kommen, erst den Checkpoint durchqueren mussten.

Hauswand mit Steckdosen: Überreste des ersten zerstörten Hauses; ©EAPPI
Hauswand mit Steckdosen: Überreste des ersten zerstörten Hauses; ©EAPPI

2013 erhielten die Familien laut Raed unerwartet eine Strafe dafür, dass sie 1997 Veränderungen am Dach ihres Hauses vorgenommen hatten. 6.000 Shekel (etwa 1.400 Euro) wurde ihnen als Bußgeld auferlegt. Die Strafe wurde in zwölf Monatsraten beglichen. Einen Monat nach der letzten Rate rückten die Bulldozer an. Auch damals musste die Familien umgehend das Haus verlassen, doch ihre persönlichen Besitztümer wurden vor der Zerstörung aus dem Haus geräumt. Nach der Arbeit der Bulldozer blieb vom Haus nur eine kleine Steintreppe, Geröll und eine Hauswand übrig, an der noch heute Steckdosen erkennbar sind.

Zwei Jahre lebten die Familien daraufhin in Zelten, die ihnen vom Roten Kreuz gespendet wurden. Danach begannen sie stabilere Strukturen mit Metallwänden aufzubauen. Nach und nach entstand ein 75qm großes Haus, mit zwei Schlafzimmern – eines für Raeds Familie, bestehend aus ihm, seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern; eines für die Familie seines Bruders, bestehend aus ihm, seiner Ehefrau und drei kleinen Kindern – und einem gemeinsamen Wohnzimmer. Nebenan bauten sie ein 15qm großes Küchenhäuschen sowie ein kleines Häuschen als Badezimmer. Von all dem sind nun, nach der diesjährigen Zerstörung, keinerlei Spuren mehr übrig.

Raeds Vater steht schon zum zweiten Mal vor den Trümmern seiner Existenz; ©EAPPI
Raeds Vater steht schon zum zweiten Mal vor den Trümmern seiner Existenz; ©EAPPI

Während des Besuches frage ich den Vater von Raed, wo die beiden Familien nun leben. Er deutet auf einen kleinen Verschlag auf dem angrenzenden Grundstück, der aussieht, als sei er eigentlich der Stall für das auf der Wiese grasende Pferd. Hoffnungslosigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben. Als er die Tränen nicht mehr zurückhalten kann, wendet er sich ab und zieht sich gesenkten Hauptes in den Verschlag zurück.

Raed bestätigt mir später meinen Verdacht: die dreizehn Familienmitglieder im Alter von 3 bis 52 Jahren leben derzeit gemeinsam in einer ehemaligen Stallung. Mit Elektrizität aber ohne fließendes Wasser und mit einem Brunnen, den sie nicht mehr nutzen können. Was sie nun vorhaben, frage ich. Werden sie wegziehen? „Wir haben keinen Ort, an den wir gehen könnten.“ Ein Wiederaufbau des Hauses ist unmöglich – zumindest würden sie dafür keine Genehmigung erhalten und wären somit jederzeit von einer erneuten Hauszerstörung bedroht. Weil mit der Zerstörung ihres Ladens auch die Haupteinnahmequelle verloren gegangen ist, stehen ihnen auch finanziell sehr schwierige Zeiten bevor. Sie überlegen, ob sie den Verkauf am Straßenrand sitzend weiterführen können. Würden sie gehen, wenn sie einen Ort hätten, an den sie gehen könnten, hake ich nach. „Ich glaube nicht, trotz der widrigen Lebensumstände.“ antwortet er. „Die meisten von uns haben ihr ganzes Leben hier verbracht, all unsere Erinnerungen sind hier. Es gibt so viel was uns mit diesem Stück Land verbindet.“ Was sie nun brauchen ist rechtliche Hilfe, um an fließendes Wasser zu kommen, erklärt Raed. Den Anschluss an das Wassernetz muss die Jerusalemer Stadtverwaltung genehmigen, jene Behörde, die an der Hauszerstörung maßgeblich beteiligt war.

Sanya, März 2018

 

[1] Nur etwa 8,5% der Fläche von Jerusalem sind für palästinensische Bebauung ausgezeichnet (und größtenteils bereits bebaut), obwohl Palästinenser 40% der Bevölkerung der Stadt ausmachen. Baugenehmigungen sind daher sehr schwer zu bekommen. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 1/3 aller Häuser in Ost-Jerusalem ohne israelische Baugenehmigung errichtet wurden. Weitere Informationen unter: https://www.btselem.org/jerusalem

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