Checkpoint 300

Checkpoint 300, auch Gilo Checkpoint – benannt nach der benachbarten jüdischen Siedlung, trennt Bethlehem von Ost-Jerusalem. Der Checkpoint befindet sich auf der 1967 von Israel unilateral erweiterten Verwaltungsgrenze Jerusalems, etwa zwei Kilometer entfernt von der Grünen Linie. Karte ©UNOCHA-OPT
Checkpoint 300, auch Gilo Checkpoint – benannt nach der benachbarten jüdischen Siedlung, trennt Bethlehem von Ost-Jerusalem. Der Checkpoint befindet sich auf der 1967 von Israel unilateral erweiterten Verwaltungsgrenze Jerusalems, etwa zwei Kilometer entfernt von der Grünen Linie. Karte ©UNOCHA-OPT

Niemand macht wohl gerne Dienst um 4 Uhr morgens, erst recht nicht an einem checkpoint und dann auch noch an einem berüchtigten wie dem checkpoint 300[1] zwischen Bethlehem und Jerusalem, gleich neben Rahels Grab[2], wo die Mauer wie wild mäandert. Aber der Wecker meldet sich gnadenlos um 3.30 Uhr, Zeit genug für eine flüchtige Morgenwäsche, Zähneputzen und eine heiße Tasse Tee. Warme Schuhe und Socken sind angesagt, denn im Winter kann es im checkpoint in Bethlehem (800 m) kalt werden. Die Straße vor unserem Haus ist dunkel und menschenleer, doch um die Ecke, auf der Zufahrtsstraße zum checkpoint herrscht schon hektisches Treiben. Ein Taxi nach dem anderen spuckt dunkel gekleidete Männer aus, die zum Eingang des checkpoints eilen, vorbei an den Ständen der Straßenhändler, die im grellen Lichtkegel weniger Arbeitslampen Zigaretten und Kaffee, Fladenbrot und Hummusdosen, Müsliriegel und harte Eier, Süßigkeiten, Früchte oder Tomaten verkaufen. Auch Socken und Ladekabel sind im Angebot. Daneben werden in einem riesigen Kessel Falafelbällchen frittiert. Viele der Männer kommen aus dem Süden der besetzten Gebiete und haben schon eine Stunde Fahrt zum checkpoint hinter sich. Da kommen schon Hungergefühle auf und man versorgt sich hier schnell im Vorbeigehen auch für die Mittagspause. Alle haben es eilig. Es herrscht das tägliche Chaos, weil alles in dieser dunklen  vierspurigen Sackgasse, die an der Mauer endet, ungeregelt ist. Taxis, die kommen, drehen und zurückfahren wollen, blockieren sich gegenseitig, Fußgänger drängen sich an den Ständen, fliegende Händler versperren Durchgänge, Autos suchen hupend Zugang zu irgendwelchen Parkplätzen.

Früher verband diese seit Jahrhunderten, ja seit biblischen Zeiten existierende Straße Jerusalem mit Bethlehem und Hebron im Süden. Seit dem Mauerbau 2003 quert die 8-9 m hohe Betonmauer die Straße. An diesem Abschnitt der Jerusalem-Hebron-Straße florierte früher ein kommerzielles Zentrum Bethlehems, doch daran erinnern heute nur noch geisterhafte Straßenzeilen mit unzähligen  geschlossenen Läden. Wer heute nach Süden will oder zu den Siedlungen im Gush Etzion, einem der großen Siedlungsblöcke im Süden Jerusalems und Bethlehems, der nutzt eine Umgehungsstraße.

Allmorgendliches Warten am Checkpoint; Foto © EAPPI
Allmorgendliches Warten am Checkpoint; Foto © EAPPI

Vorbei an den Ständen betrete ich die checkpoint-Anlage. Sie besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen, dazwischen ein kleiner Platz. Zunächst also begebe ich mich in eine kaum beleuchtete tunnelartige Struktur, drei parallele, schmale, etwa 40 bis 50 m lange Gänge, die durch eine schulterhohe Mauer getrennt und mit Wellblech überdacht sind. Auf der Mauer ist ein knapp 2 m hoher Metallzaun mit senkrechten Streben installiert, der diesen Gängen einen käfigartigen Charakter verleiht. Seit Wochen ist nur noch einer dieser Gänge geöffnet, der zu einem Drehkreuz in einem Loch in der Mauer führt. Durch Schließen und Öffnen des Drehkreuzes wird der Menschenstrom in das Terminal auf der anderen Seite des kleinen Platzes geregelt. Dort führen Gänge in eine große Halle mit Zugängen zu sechs weiteren Drehkreuzen, hinter denen sich Transportbänder und Metalldetektoren befinden, die der Sicherheitsprüfung von Mensch und Gepäck dienen – alles unter Beobachtung von Soldaten hinter Panzerglas, die mit den Menschen nur über Lautsprecher kommunizieren oder auf Laufstegen über den Menschen durch die Halle patrouillieren, mal lässig rauchend und Kaffee trinkend, mal mit der MP im Arm. Danach ist ein weiteres, metallenes Drehkreuz zu passieren, bis man den Schalter erreicht, an dem der Fingerabdruck geprüft und durch das Scannen der speziellen ID-Card für Palästinenser*innen aus der Westbank festgestellt wird, ob eine Erlaubnis zum Betreten Israels erteilt worden ist. Nach dem Verlassen des checkpoints warten auf der israelischen Seite die Busse (der arabischen Buslinie) in das aus israelischer Sicht wiedervereinigte Jerusalem, aber viele Arbeiter werden so früh am Morgen auch in Pickups oder Lieferwagen von ihren Arbeitgebern abgeholt.

Im Zugang zum Checkpoint; Foto © EAPPI
Im Zugang zum Checkpoint; Foto © EAPPI

Der Gang ist schon gut gefüllt. Nach ca. dreißig Metern erreiche ich das Ende der Warteschlange vor dem ersten Drehkreuz auf der palästinensischen Seite. Nichts bewegt sich, weil das Drehkreuz geschlossen ist. Die Schlange wächst. Bald werde ich eingekeilt sein. Ein checkpoint ist nichts für Klaustrophobe! Über mir an dem Metallzaun auf der Mauer hangeln sich die ersten jungen Männer in Richtung Drehkreuz. Die checkpoint-Benimmregeln scheinen diese Form des „Überholens auf einer höheren Ebene“ zu erlauben. Kurz vor dem Drehkreuz springen die jungen Männer von der Mauer herab und reihen sich wieder ein.  Die Lage ist noch relativ entspannt, viele sind mit ihren Smartphones beschäftigt; im Nebengang geht der Kaffeeverkäufer auf und ab, ruft laut sein „qahwe, qahwe“ (Kaffee), gießt aus seiner überdimensionierten Messingthermoskanne sein Gebräu in den Pappbecher und reicht diesen für vier Schekel über die Mauer. Ich kriege ihn gratis – man kennt sich. Hätte ich einen Löffel, er würde in dem Kaffee stecken bleiben. Doch er hält warm – zumindest von innen, zumindest vorübergehend. Nach einer Weile kommt Bewegung in die dicht gedrängte Menschenschlange. So schieben, drängeln, schubsen wir uns langsam zum Drehkreuz. Noch zwei Warteperioden, dann bin ich durch. Es gab schon schlimmere Tage, mit Ohnmachten oder Rippenbrüchen im Gedränge.

Nachdem ich den kleinen Platz zwischen den beiden Gebäuden überquert habe und bevor ich mich in den nächsten Gang begebe, sage ich Amir „Sabach ilcher“ (Guten Morgen), ein junger Palästinenser, der dort Morgen für Morgen ab 3.30 Uhr steht und SIM-Karten verkauft. Er spricht fließend Englisch und Hebräisch und informiert uns über alle Geschehnisse im checkpoint und rund herum. Nach einem kurzen Plausch mit Amir mache ich mich auf, um meinen Posten gegenüber den Drehkreuzen weiter unten im Terminal zu beziehen. Von dort kann ich den Strom der hereinkommenden Arbeiter, die Öffnung der Kreuze und den Durchlauf durch die Detektoren beobachten. An den Drehkreuzen leuchtet ein rotes Kreuz, wenn es geschlossen, und ein grüner Pfeil, wenn es geöffnet ist. Zwei Tore sind heute Morgen wohl in Betrieb, denn es bilden sich vor diesen Warteschlangen. Periodisch werden die Drehkreuze geöffnet, dann wieder geschlossen – manchmal für 10 Minuten, bevor es weitergeht. Manchmal bleiben sie geschlossen und ein anderes gate wird geöffnet, was zu einer hektischen Umorientierung der Schlangen, zum Drängeln und Stoßen, zum Klettern durch und über die Geländer führt, denn die ersten in der einen Schlange sind nun plötzlich die letzten in der anderen. Eine Erklärung für den wechselnden Rhythmus bei der Bedienung der Drehkreuze ist nicht ersichtlich. Vielleicht soll uns die Bewegung warm halten. Ab und an bellt eine unverständliche Stimme über den Lautsprecher irgendwelche Befehle (Arabisch? Hebräisch?), weil an den Metalldetektoren Verzögerungen wegen vergessener Schlüssel in den Hosentaschen oder zu dicken Schuhsohlen, die gesondert durchleuchtet werden müssen, auftreten. Niemand erwartet wohl im checkpoint die freundlich-lockere Atmosphäre eines eleganten, weitläufigen Flughafenterminals, doch mir stellt sich trotzdem die Frage, warum offenbar nichts in einem freundlicheren Ton kommuniziert werden kann. Gewiss, auch bei den Soldaten wird der Frühdienst am checkpoint nicht gerade beliebt sein.

Mann mit Baby im Checkpoint 300 – nicht nur für Arbeiter ist der Checkpoint der einzige Durchgang nach Jerusalem, sofern sie eine Genehmigung der israelischen Behörden haben; Foto © EAPPI
Mann mit Baby im Checkpoint 300 – nicht nur für Arbeiter ist der Checkpoint der einzige Durchgang nach Jerusalem, sofern sie eine Genehmigung der israelischen Behörden haben; Foto © EAPPI

Die palästinensischen Arbeiter eilen den letzten Gang hinunter in das Terminal. Einige mit einem kleinen Tagesrucksack, die meisten mit einer kleinen schwarzen Plastiktüte, in der sich die vor dem checkpoint gekaufte Verpflegung befindet und alle Gegenstände, die durchleuchtet werden müssen. An diesem kühlen Wintermorgen haben fast alle ihre dicken Mützen oder Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Es könnte ja auch sein, dass die riesigen Ventilatoren an der Decke wieder einmal angestellt werden. Dann pfeift eine steife Brise durch die Halle und die Temperaturen sinken um weitere Grade. In der Schlange gibt es kein Entrinnen. Eine geradezu erniedrigende Behandlung für die wartenden Menschen. In der Kälte verschwinden auch etwaige Müdigkeitsgefühle viel schneller. Wenn die Arbeiter den Gang hinunterkommen, blicken sie meist sehr konzentriert auf die Lichter an den Drehkreuzen. Wo komme ich am schnellsten durch? Wo leuchtet der grüne Pfeil? Wo ist die Schlange am kürzesten? Angesichts des unvorhersehbaren Öffnungs- und Schließrhythmus hat man wahrscheinlich später immer das Gefühl, die falsche Wahl getroffen zu haben. Zwei typische Handbewegungen auf den letzten Metern: das Lösen des Gürtels, der zusammengerollt in der Plastiktüte verstaut wird, und das Abtasten aller Taschen nach metallenen Gegenständen. Nur keine unnötigen Verzögerungen provozieren, nicht den unangenehmen Alarmton des Metalldetektors wegen einer vergessenen Münze auslösen, der eine „Ehrenrunde“ durch die Detektoren zur Folge hätte, denn eine zu große Verspätung kann den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten, wenn der ungeduldige Fahrdienst des Arbeitgebers auf der anderen Seite des checkpoints nicht mehr länger warten mag.

Die vorbeihastenden Menschen nehmen mich hier auf meinem Beobachtungsposten in der Ecke kaum wahr. Zu sehr sind sie mit der Vorbereitung auf die Kontrollen beschäftigt. Kommt die Schlange wieder einmal zum Stillstand, schauen einige rüber, verschlossene Gesichter öffnen sich plötzlich und grüßen freundlich. Wir wechseln ein paar Worte (zu mehr reicht mein Arabisch nicht), der eine oder andere sagt Danke, dass ich da stehe. Wird es zu eng, die Wartezeit aus wieder unerklärlichen Gründen zu lang oder das Wechseln zwischen den mal hier, mal dort öffnenden Drehkreuzen zu hektisch, wird mir schon einmal ein fragender Blick zugeworfen, verbunden mit einer auffordernden Geste, doch etwas zu unternehmen – auf die ich aber nur mit einem bedauernden Schulterzucken reagieren kann. Manchmal reichen Zeit und Sprachkenntnisse, um die Begrenzung unserer Funktion als EAPPI-Beobachter auf das monitoring und Berichten deutlich zu machen. ‚Schützende Präsenz‘ – das bedeutet in diesen Momenten eben auch Frust über die Grenzen unserer Möglichkeiten.

Nach einer guten Stunde kriecht die Kälte durch die Schuhsohlen in die Knie, von dort langsam in den Bauch. Zeit für einen Standortwechsel. Vorbei an einigen der Arbeiter, die in den Ecken der Halle auf dem blanken Betonboden ihr Morgengebet verrichten, gehe ich die Gänge hoch bis zu dem kleinen Platz, auf dem sich gerade wieder Reihen von Gläubigen bilden, die sich die Zeit für ein Gebet nehmen. Der Rucksack, die Tasche, der kleine Plastikbeutel wird beiseitegelegt, wenn möglich eine herumliegende Pappe ergriffen, auf der niedergekniet und das Morgengebet verrichtet werden kann. Es ist ein Innehalten, ein Atemholen in dem hektischen Hasten, Eilen und Rennen zu den letzten Drehkreuzen des checkpoints.

Ein Mann versucht, sich am Checkpoint unter einem Tor hindurchzuquetschen, um schneller voran zu kommen; Foto © EAPPI
Ein Mann versucht, sich am Checkpoint unter einem Tor hindurchzuquetschen, um schneller voran zu kommen; Foto © EAPPI

Ein kurzer Chat mit Amir und Austausch mit dem Kollegen, der jetzt meinen Platz unten im Terminal einnehmen wird. Ich postiere mich am Rande des Platzes hinter dem ersten Drehkreuz. Der schubweise Strom der Menschen lässt nicht nach. Immer wieder steht das Drehkreuz still. Die schlanken Männer quetschen sich durch den noch offenen Spalt. Andere zwängen sich flachliegend auf dem Boden unten durch. Der wachhabende Soldat in seinem Metallkasten mit schusssicherem Glasfenster lässt es heute geschehen. Ist seine Untätigkeit seiner Schläfrigkeit geschuldet? Hat er Verständnis für die Eile und Ungeduld der Männer? Oder erfreut er sich an den demütigenden Kriech- und Krabbelversuchen? Ist das Drehkreuz wieder geöffnet, stürmen einige Männer über den Platz zum unteren Teil des Terminals, andere lassen sich Zeit. Ich versuche, trotz Kälte und früher Stunde freundlich zu blicken, und grüße aufmunternd. Immer wieder erwidern vorbeihastende Männer meinen Gruß und meine Blicke. Mir kommt es vor, als ob sich dann manche Miene aufhellt – oder bilde ich mir das nur ein? Was geht in den Köpfen dieser Männer vor, so früh am Morgen? Denken sie an Frau und Kinder, die sie mitten in der Nacht in ihren Betten zurücklassen mussten? Denken sie an den Arbeitstag, der vor ihnen liegt? Verfluchen sie die Besatzung, die Soldaten, Israel? Was tut das mit den Menschen, die sich jeden Tag diesen checkpoint-Prozeduren unterziehen müssen?

An einem guten Tag entsteht ein fast regelmäßiger Fluss zwischen den Drehkreuzen, kaum genervte Befehle über Lautsprecher, wenig Unruhe unter den Wartenden. Aber an schlechten Tagen bleiben die meisten Drehkreuze geschlossen, in den langen Schlangen wird gedrängelt und geschoben, da werden Männer ohnmächtig, Drängler werden beschimpft, es wird gebrüllt und geschrien, die Spannung in der Luft ist spürbar. Auch unsere Anrufe in der Checkpoint-Zentrale mit der Bitte, ein weiteres gate zu öffnen, werden dann fast immer abgelehnt.

Nun dämmert es langsam. Bald wärmen die ersten Sonnenstrahlen. Am oberen Ende des Platzes befindet sich der checkpoint für Autos und Busse. Tag und Nacht rumpeln hier die großen Touristenbusse über die Schwellen entweder in Richtung Geburtskirche oder Hotel oder zurück nach Jerusalem und zum Flughafen. Durch die getönten Scheiben der Busse fällt der Blick der Touristen vielleicht auf die bunten Bilder von den Sehenswürdigkeiten Israels, die auf dieser Seite die Mauer mit einem „Welcome to Israel“ schmücken. Was würden die Touristen wohl denken, wenn sie das deprimierende Treiben in dem dreckigen, kalten, unfreundlichen checkpoint 300 sähen?

Christian, im März 2019

 

Ich nehme für das Berliner Missionswerk (BMW) am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen teil. Diese Stellungnahme gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des BMW oder des Ökumenischen Rates der Kirchen sind.

[1] Videos von France 24 und dem israelischen Channel 1 veranschaulichen exemplarisch die Situation am Checkpoint 300: https://www.youtube.com/watch?v=HULfHqlLZW8, https://www.youtube.com/watch?v=qyv0TMfayBA

[2] Nach der biblischen Erzählung war Rachel die Frau Jakobs und Mutter von Josef und Benjamin, damit eine der Erzmütter Israels. Das Grab am Nordrand Bethlehems ist Muslimen und Juden heilig. Seit dem Bau der Mauer um Bethlehem existiert der kleine Grabbau –  auf vier Seiten von der Mauer umgeben – quasi als jüdische Exklave im palästinensischen Gebiet.

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner