Ameer am Checkpoint

Ameer bei seiner frühmorgendlichen Arbeit am Checkpoint ©EAPPI
Ameer bei seiner frühmorgendlichen Arbeit am Checkpoint ©EAPPI

Ameer* ist viel länger und öfter als wir am engen Checkpoint 300 in Bethlehem anwesend. Wenn wir morgens um 4 Uhr erscheinen, ist er oft schon dort. Er hat sich am Ende des Betonganges einen Hochstuhl gebastelt, den er ankettet, damit er ihn täglich wiederfindet. Dort sitzt er oft stundenlang und lässt die Tausenden vorbeiziehen, die nach Israel rübergehen, um – meist auf den Baustellen – Geld zu verdienen, da es auf palästinensischer Seite zu wenig Arbeit gibt. Ameer verkauft mit großer Geschicklichkeit beim Geldwechseln seine fünf verschiedenen Telefonkarten durch das Gitter an die durchgehenden und manchmal regelrecht durchschiebenden Palästinenser. Sie müssen jeden Tag demütigendes Warten, Kontrolliert-werden, zeitweiliges Schließen der klappernden Drehkreuze und entwürdigende Kontrollen durchlaufen und erdulden dies zumeist mit großer Langmut. Selbst junge Männer, die sich auf der Ebene der Gitter an der Schlange vorbeihangeln, um etwas schneller durchzukommen, werden von ihren Kollegen locker akzeptiert, wenn sie vorn wieder herunterkommen und sich einreihen. Nachher sieht man sie manchmal auf der anderen Seite der Kontrollen routiniert -schnell oder auch mühsam- ihre Gürtel wieder durch die Hosenschlaufen ziehen.

Bethlehem Checkpoint 300 passieren jeden Morgen etwa 6000 Menschen ©EAPPI
Bethlehem Checkpoint 300 passieren jeden Morgen etwa 6000 Menschen ©EAPPI

Ich frage Ameer, was das gerade und vorher schon zweimal – in der gedrängten Masse zu hörende Wort eines Einzelnen und das folgende Raunen von Hunderten bedeutet habe: Einer hat gerufen: Allah u Akbar (Gott ist groß) und so viele hatten halb murmelnd, halb rufend diesen Ruf wiederholt. Ich denke mir: Das ist für viele, die hier das Morgengebet verrichten, ein kollektives betendes Stöhnen über die Verhältnisse. Dieses Stöhnen und antwortende zustimmende Raunen auf den Ruf „Gott ist groß“ hilft über die mühselige Gegenwart hinweg. Es ist keine Vertröstung, sondern Stärkung im dauerhaften Widerstehen und Hoffen.

Auch Ameer träumt von besseren Zeiten; er hat so manches Wort an die Wände geschrieben, das sich auf Gandhi oder andere Vorbilder bezieht; er träumt auch, über mich an ein neues Auto aus Deutschland zu kommen; manchmal träumt er sich weg, glaube ich. Und nach einem solchen Tagtraum kritzelt er Visionen an die Wand. Die meisten dort sind erklärtermaßen von ihm.

„Be the change you want to see in the world“, darüber sein Name: Ameer ©EAPPI
„Be the change you want to see in the world“, darüber sein Name: Ameer ©EAPPI

Mein Eindruck: hier arbeitet ein Gewaltfreier aus Überzeugung von früh an wie wir und weit länger und geduldiger als wir. Es ist eben nicht nur das Verkaufen von Telefonkarten und das Verteilen guter Worte und Blicke, auch nicht nur das Anschreiben ermutigender Zitate.

Nein: Ameer lebt das, was er da in seiner tiefsten Einsamkeit hingeschrieben hat – Mahnung und Sehnsucht zugleich.

Und er ist wie ein Vertrauter für die vielen die immer wieder hier morgens durchgehen. Hier wo man allein durch die Prozeduren gedemütigt wird. Auch ich muss oft 2-3mal durch das Drehkreuz und den Metalldetektor, weil er nicht aufhört zu piepsen wegen meiner künstlichen Hüften.

©EAPPI
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„Be the change you want to see in the world.” Smiley. Darüber sein Name AMEER. Hier ist auch noch die Weltkugel sichtbar, die er dazu gemalt hat. Ameer erzählt mir, dass er noch nie am Mittelmeer war.  Es bleibt ihm sinniger Weise nur das Tote Meer.

Nicht die Terroristen ohne Glauben haben diesen Ruf erfunden; an Orten wie hier oder von den vielen Muezzin-Rufen haben sie ihn gelernt, und grausam kopiert.

Den gewaltfreien Widerstand vermutet man vielleicht nicht an einem Ort wie diesem, Checkpoint 300 in Bethlehem. Aber wie an vielen anderen Stellen habe ich ihn auch hier gefunden, eine Art „passiven Widerstand in Langfristperspektive“. Für mich bleibt diese Standhaftigkeit ebenso beeindruckend in Erinnerung wir die immer wieder erfahrene großzügige Gastfreundschaft.

* gesprochen Amir

Reinhard, September 2017

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